Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Die Horen 11/1795

 

VIII. 

Über das Naive. 

Es giebt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohlthut, auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade Gegenteil statt finden) sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt dieses, wenn er im Freyen wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder sich bey den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses, nicht selten zum Bedürfniß erhöhte Interesse ist es, was vielen unserer Liebhabereien für Blumen und Thiere, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Alterthums, u. dgl. zum Grund liegt; vorausgesetzt, dass weder Affektation, noch sonst ein zufälliges Interesse dabey im Spiel sey. Diese Art des Interesse an der Natur findet aber nur unter zwey Bedingungen statt. Fürs erste ist es durchaus nöthig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur sey oder doch von uns dafür gehalten werde; zweitens, daß er (in weitester Bedeutung des Wortes) naiv sey, d. h. daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme. Sobald das letzte zu dem ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.

Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts anders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen. 

Diese Vorstellung ist schlechterdings nöthig, wenn wir an dergleichen Erscheinungen Interesse nehmen sollten. Könnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur mit der vollkommensten Täuschung geben, könnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur höchsten Illusion treiben, so würde die Entdeckung daß es Nachahmung sey, das Gefühl, von dem die Rede ist, gänzlich vernichten. Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Formen. Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooßter Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen etc. für sich selbst so gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Daseyn nach eigenen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. 

Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unsrer verlorenen Kindheit, die uns ewig das theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen. 

Aber ihr Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk ihrer Wahl ist. Sie gewähren uns also die ganz eigene Lust, daß sie, ohne uns zu beschämen, unsere Muster sind. Eine beständige Göttererscheinung, umgeben sie uns, aber mehr erquickend als blendend. Was ihren Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt. Wir sind frey und sie sind nothwendig; wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beydes sich mit einander verbindet – wenn der Wille das Gesetz der Nothwendigkeit frey befolgt und bey allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Wir erblicken in ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefodert sind zu ringen und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals erreichen, doch in einem unendlichen Fortschritte zu nähern hoffen dürfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt niemals, wie das vernunftlose, oder nicht anders als indem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, theilhaftig werden können. Sie verschaffen uns daher den süßesten Genuß unsrer Menschheit als Idee, ob sie uns gleich in Rücksicht auf jeden bestimmten Zustand unserer Menschheit nothwendig demüthigen müssen. 

Da sich dieses Interesse für Natur auf eine Idee gründet, so kann es sich nur in Gemüthern zeigen, welche für Ideen empfänglich sind, d.h. in moralischen. Bey weitem die mehresten Menschen affektieren es bloß, und die Allgemeinheit dieses sentimentalischen Geschmacks zu unsern Zeiten, welcher sich besonders seit der Erscheinung gewisser Schriften, in empfindsamen Reisen, dergleichen Gärten, Spaziergängen, und andere Liebhabereyen dieser Art äussert, ist noch ganz und gar kein Beweis für die Allgemeinheit dieser Empfindungsweise. Doch wird die Natur auch auf den gefühllosesten immer etwas von dieser Wirkung äussern, weil schon die, allen Menschen gemeine, Anlage zum Sittlichen dazu hinreichend ist, und wir alle ohne Unterschied, bey noch so großer Entfernung unserer Thaten von der Einfalt und Wahrheit der Natur, in der Idee dazu hingetrieben werden. Besonders stark und im allgemeinsten äussert sich diese Empfindsamkeit für Natur bey Veranlassung solcher Gegenstände, welche in einer engern Verbindung mit uns stehen, und uns den Rückblick auf uns selbst und die Unnatur in uns näher legen, wie z. B. bey Kindern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hülflosigkeit sey, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit soviel Rührung bey Kindern verweilen. Das mag bey denjenigen vielleicht der Fall seyn, welche der Schwäche gegenüber nie etwas anders als ihre eigene Überlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefühl, von dem ich rede, (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt, und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die fröhliche Thätigkeit der Kinder in uns erregt) ist eher demüthigend als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn ja ein Vorzug dabey in Betrachtung kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite. Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unsers Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner reinen Unschuld hinauf sehen, gerathen wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemischt, als daß sich diese Quelle desselben verkennen liesse. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegentheil die Vorstellung seiner reinen und freyen Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand seyn, ein Gegenstand nehmlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet, und der, was er auch in der Beurtheilung des Verstandes verlieren mag, in der Beurtheilung der Vernunft wieder in reichem Maaße gewinnt. 

Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urtheile der Vernunft und des Verstandes geht die ganz eigene Erscheinung des gemischten Gefühls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die letztere gibt es dem Verstand eine Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsere (theoretische) Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche sey, daß folglich nicht Unverstand, nicht theoretisches Unvermögen, sondern eine höhere praktische Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit, die Quelle davon sey, welches die Hülfe der Kunst aus innerer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbey, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir fühlen uns genöthigt, den Gegenstand zu achten, über den wir vorher gelächelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu beklagen, daß wir demselben nicht ähnlich sind. So entsteht die ganz eigene Erscheinung eines Gefühls, in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zusammenfliessen. Zum Naiven wird erfodert daß die Natur über die Kunst den Sieg davon trage es geschehe dieß nun wider Wissen und Willen der Person, oder mit völligem Bewußtseyn derselben. In dem ersten Fall ist es das Naive der Überraschung und belustigt; in dem andern ist es das Naive der Gesinnung und rührt. 

Bey dem Naiven der Überraschung muß die Person moralisch fähig seyn, die Natur zu verläugnen; bey dem Naiven der Gesinnung darf sie es nicht seyn, doch dürfen wir sie uns nicht als physisch unfähig dazu denken, wenn es als naiv auf uns wirken soll. Die Handlungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur solange den reinen Eindruk des Naiven, als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern, und überhaupt nur auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns Rüksicht nehmen. Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird, und kann eben deßwegen der wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden. 

In beyden Fällen aber, beym Naiven der Überraschung wie bey dem der Gesinnung muß die Natur Recht, die Kunst aber Unrecht haben. 

Erst durch diese letztere Bestimmung wird der Begriff des Naiven vollendet. Der Affekt ist auch Natur und die Regel der Anständigkeit ist etwas Künstliches; dennoch ist der Sieg des Affekts über die Anständigkeit nichts weniger als naiv. Siegt hingegen derselbe Affekt über die Künsteley, über die falsche Anständigkeit, über die Verstellung, so tragen wir kein Bedenken, es naiv zu nennen. Es wird also erfodert, daß die Natur nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamische, sondern daß sie durch ihre Form als moralische Größe, kurz daß sie nicht als Nothdurft, sondern als innere Nothwendigkeit über die Kunst triumphiere. Nicht die Unzulänglichkeit sondern die Unstatthaftigkeit der letztern muß der ersteren den Sieg verschaft haben; denn jene ist Mangel, und nichts, was aus Mangel entspringt, kann Achtung erzeugen. Zwar ist es bey dem Naiven der Überraschung immer die Übermacht des Affekts und ein Mangel an Besinnung, was die Natur bekennen macht; aber dieser Mangel und jene Übermacht machen das Naive noch gar nicht aus, sondern geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer moralischen Beschaffenheit, d. h. dem Gesetze der Übereinstimmung ungehindert folgt. 

Das Naive der Überraschung kann nur dem Menschen und zwar dem Menschen nur, insofern er in diesem Augenblicke nicht mehr reine und unschuldige Natur ist, zukommen. Es setzt einen Willen voraus, der mit dem was die Natur auf ihre eigene Hand thut, nicht übereinstimmt. Eine solche Person wird, wenn man sie zur Besinnung bringt, über sich selbst erschrecken; die naiv gesinnte hingegen wird sich über die Menschen und über ihr Erstaunen verwundern. Da also hier nicht der persönliche und moralische Charakter, sondern bloß der durch den Affekt freygelassene natürliche Charakter die Wahrheit bekennt, so machen wir dem Menschen aus dieser Aufrichtigkeit kein Verdienst und unser Lachen ist verdienter Spott, der durch keine persönliche Hochschätzung desselben zurückgehalten wird. Weil es aber doch auch hier die Aufrichtigkeit der Natur ist, die durch den Schleier der Falschheit hindurch bricht, so verbindet sich eine Zufriedenheit höherer Art, mit der Schadenfreude, einen Menschen ertappt zu haben; denn die Natur im Gegensatz gegen die Künsteley und die Wahrheit im Gegensatz gegen den Betrug muß jederzeit Achtung erregen. Wir empfinden also auch über das Naive der Überraschung ein wirklich moralisches Vergnügen, obgleich nicht über einen moralischen Gegenstand. 

Bey dem Naiven der Überraschung achten wir zwar immer die Natur, weil wir die Wahrheit achten müssen; bey dem Naiven der Gesinnung achten wir hingegen die Person, und geniessen also nicht bloß ein moralisches Vergnügen sondern auch über einen moralischen Gegenstand. In dem einen wie in dem andern Falle hat die Natur Recht, daß sie die Wahrheit sagt; aber in dem letztern Fall hat die Natur nicht bloß Recht, sondern die Person hat auch Ehre. In dem ersten Falle gereicht die Aufrichtigkeit der Natur der Person immer zur Schande, weil sie unfreywillig ist; in dem zweyten gereicht sie ihr immer zum Verdienst, gesetzt auch, daß dasjenige, was sie aussagt, ihr Schande brächte. 

Wir schreiben einem Menschen eine naive Gesinnung zu, wenn er in seinen Urtheilen von den Dingen ihre gekünstelten und gesuchten Verhältnisse übersieht und sich bloß an die einfache Natur hält. Alles, was innerhalb der gesunden Natur davon geurtheilt werden kann, fodern wir von ihm, und erlassen ihm schlechterdings nur das, was eine Entfernung von der Natur, es sey nun im Denken oder im Empfinden, wenigstens Bekanntschaft derselben voraussetzt. 

Wenn ein Vater seinem Kinde erzählt, daß dieser oder jener Mann vor Armuth verschmachte, und das Kind hingeht, und dem armen Mann seines Vaters Geldbörse zuträgt, so ist diese Handlung naiv; denn die gesunde Natur handelte aus dem Kind, und in einer Welt, wo die gesunde Natur herrschte, würde es vollkommen recht gehabt haben, so zu verfahren. Es sieht bloß auf das Bedürfniß, und auf das nächste Mittel, es zu befriedigen; eine solche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey ein Theil der Menschen zu Grunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht gegründet. Die Handlung des Kindes ist also eine Beschämung der wirklichen Welt, und das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen, welches es über jene Handlung empfindet. 

Wenn ein Mensch ohne Weltkenntniß, sonst aber von gutem Verstande, einem andern, der ihn betrügt, sich aber geschickt zu verstellen weiß, seine Geheimnisse beichtet, und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die Mittel leyht ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber können uns doch nicht erwehren, ihn deßwegen hochzuschätzen. Denn sein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit seiner eigenen Gesinnungen; wenigstens ist er nur in so fern naiv, als dieses der Fall ist. 

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Eigenschaft verdorbener Menschen seyn, sondern nur Kindern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese letztern handeln und denken oft mitten unter den gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer verderbten Welt zu thun haben, und betragen sich selbst an den Höfen der Könige mit einer Ingenuität und Unschuld, wie man sie nur in einer Schäferwelt findet. 

Es ist übrigens gar nicht so leicht, die kindische Unschuld von der kindlichen immer richtig zu unterscheiden, indem es Handlungen giebt, welche auf der äusersten Grenze zwischen beyden schweben, und bey denen wir schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Einfältigkeit belachen oder die edle Einfalt hochschätzen sollen. Ein sehr merkwürdiges Beyspiel dieser Art findet man in der Regierungsgeschichte des Papstes Adrian des Sechsten, die uns Herr Schröckh mit der ihm eigenen Gründlichkeit und pragmatischen Wahrheit beschrieben hat. Dieser Pabst, ein Niederländer von Geburt, verwaltete das Pontifikat in einem der kritischsten Augenblicke für die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Blößen der römischen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und die Gegenparthey im höchsten Grad interessiert war, sie zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn ja ein solcher sich auf den Stuhl des heiligen Peters verirrte, in diesem Falle zu thun hatte ist keine Frage; wohl aber wie weit eine solche Naivität der Gesinnung mit der Rolle eines Pabstes verträglich seyn möchte. Dieß war es übrigens, was die Vorgänger und die Nachfolger Adrians in die geringste Verlegenheit setzte. Mit Gleichförmigkeit befolgten sie das einmal angenommene römische System, überall nichts einzuräumen. Aber Adrian hatte wirklich den geraden Charakter seiner Nation, und die Unschuld seines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphäre des Gelehrten war er zu seinem erhabenen Posten emporgestiegen, und selbst auf der Höhe seiner neuen Würde jenem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die Mißbräuche in der Kirche rührten ihn, und er war viel zu redlich, öffentlich zu dißimulieren, was er im stillen sich eingestand. Dieser Denkart gemäß ließ er sich in der Instruktion, die er seinem Legaten nach Deutschland mitgab, zu Geständnißen verleiten, die noch bey keinem Pabst erhört gewesen waren, und den Grundsätzen dieses Hofes schnurgerade zuwiderliefen. „Wir wissen es wohl, hieß es unter andern, daß an diesem heiligen Stuhl schon seit mehrern Jahren viel Abscheuliches vorgegangen; kein Wunder, wenn sich der kranke Zustand von dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabst auf die Prälaten fortgeerbt hat. Wir alle sind abgewichen und schon seit lange ist keiner unter uns gewesen, der etwas Gutes gethan hätte auch nicht Einer.“ Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu erklären, „daß er, Adrian, wegen dessen, was vor ihm von den Päbsten geschehen, nicht dürfe getadelt werden, und daß dergleichen Ausschweifungen, auch da er noch in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfallen hätten u. s. f. Man kann leicht denken, wie eine solche Naivität des Pabstes von der römischen Klerisey mag aufgenommen worden seyn; das wenigste, was man ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer verrathen habe. Dieser höchst unkluge Schritt des Pabstes würde indessen unserer ganzen Achtung und Bewunderung werth seyn, wenn wir uns nur überzeugen könnten, daß er wirklich naiv gewesen, d. h. daß er ihm bloß durch die natürliche Wahrheit seines Charakters ohne alle Rücksicht auf die möglichen Folgen abgenöthiget worden sey, und daß er ihn nicht weniger gethan haben würde, wenn er die begangene Sottise in ihrem ganzen Umfang eingesehen hätte. Aber wir haben einige Ursache zu glauben, daß er diesen Schritt für gar nicht so unpolitisch hielt, und in seiner Unschuld so weit gieng zu hoffen, durch seine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas sehr wichtiges für den Vortheil seiner Kirche gewonnen zu haben. Er bildete sich nicht bloß ein, diesen Schritt als redlicher Mann thun zu müssen, sondern ihn auch als Pabst verantworten zu können, und indem er vergaß, daß das künstlichste aller Gebäude schlechterdings nur durch eine fortgesetzte Verläugnung der Wahrheit erhalten werden könnte, begieng er den unverzeyhlichen Fehler, Verhaltungsregeln, die in natürlichen Verhältnissen sich bewährt haben möchten, in einer ganz entgegengesetzten Lage zu befolgen. Dieß verändert allerdings unser Urtheil sehr; Und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus dem jene Handlung floß, unsere Achtung nicht versagen können, so wird diese letztere nicht wenig durch die Betrachtung geschwächt, daß die Natur an der Kunst und das Herz an dem Kopf einen zu schwachen Gegner gehabt habe. 

Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines. Seine Naivetät allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verläugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmacks, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu seyn, und die Natur zu erweitern, ohne über sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke haben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht des Beyspiels sie hinreißt, oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit sie verleitet. 

Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchsloser Simplicität und Leichtigkeit lösen; das Ey des Columbus gilt von jeder genialen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles was die gesunde Natur thut ist göttlich) seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen. 

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt, zeigt es auch in seinem Privat-Leben und in seinen Sitten. Es ist schaamhaft, weil die Natur dieses immer ist; aber es ist nicht decent, weil nur die Verderbniß decent ist. Es ist verständig, denn die Natur kann nie das Gegentheil seyn; aber es ist nicht listig, denn das kann nur die Kunst seyn. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen treu, aber nicht sowohl, weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bey allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das alte Bedürfniß zurückbringt. Es ist beschieden, ja blöde, weil das Genie immer sich selbst ein Geheimniß bleibt; aber es ist nicht ängstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir wissen wenig von dem Privatleben der größten Genies, aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles, von Archimed, von Hippokrates, und aus neuern Zeiten von Ariost, Dante und Tasso, von Raphael, von Albrecht Dürer, Zervantes, Shakespear, von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt worden ist, bestätigt diese Behauptung. 

Ja, was noch weit mehr Schwürigkeit zu haben scheint, selbst der große Staatsmann und Feldherr werden, sobald sie durch ihr Genie groß sind einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epaminondas und Julius Cäsar, unter den neuern nur an Heinrich IV von Frankreich, Gustav Adolph von Schweden und den Czar Peter den Großen erinnern. Der Herzog von Marlborough, Türenne, Vendome zeigen uns alle diesen Charakter. Dem andern Geschlecht hat die Natur in dem naiven Charakter seine höchste Vollkommenheit angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch sonst keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft beruhet. Weil aber die herrschenden Grundsätze bey der weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem Streit liegen, so ist es dem Weibe im moralischen eben so schwer als dem Mann im intellektuellen, mit den Vorurtheilen der guten Erziehung jenes herrliche Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die mit einem geschickten Betragen für die große Welt dieses Naivetät der Sitten verknüpft, ist eben so hochachtungswürdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Strenge der Schule Genialische Freyheit des Denkens verbindet. 

Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weise auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen, und er ist das wichtigste Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmuth drückt das Genie seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor Irrthum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu seyn, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schärfe nimmt, so giebt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößt erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt, da ihn die andere nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt. 

Frey und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplicität und strengen Wahrheit des Ausdrucks in demselben Verhältniß, wie von der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende Schuld so wie die leicht zu verführende Einbildungskraft haben einen ängstlichen Anstand nothwendig gemacht. Ohne falsch zu seyn redet man öfters anders, als man denkt; man muß Umschweife nehmen, um Dinge zu sagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz bereiten, nur einer verderbten Phantasie Gefahr bringen können. Eine Unkunde dieser konventionellen Gesetze, verbunden mit natürlicher Aufrichtigkeit, welche jede Krümme und jeden Schein von Falschheit verachtet, (nicht Roheit, welche sich darüber, weil sie ihr lästig sind, hinwegsetzt), erzeugen eine Naivetät des Ausdrucks im Umgang, welche darinn besteht, Dinge, die man entweder gar nicht oder nur künstlich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Nahmen und auf dem kürzesten Wege zu benennen. Von der Art sind die gewöhnlichen Ausdrücke der Kinder. Sie erregen Lachen durch ihren Kontrast mit den Sitten, doch wird man sich immer im Herzen gestehen, daß das Kind Recht habe. 

Das Naive der Gesinnung kann zwar, eigentlich genommen, auch nur dem Menschen als einem der Natur nicht schlechterdings unterworfenen Wesen beygelegt werden, obgleich nur insofern als wirklich noch die reine Natur aus ihm handelt; aber durch einen Effekt der poetisierenden Einbildungskraft wird es öfters von dem Vernünftigen auf das Vernunftlose übergetragen. So legen wir öfters einem Thiere, einer Landschaft, einem Gebäude, ja der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen die Willkühr und die phantastischen Begriffe des Menschen einen naiven Charakter bey. Dieß erfodert aber immer, daß wir dem Willenlosen in unsern Gedanken einen Willen leyhen, und auf die strenge Richtung desselben nach dem Gesetz der Nothwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit über unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freyheit und über die in unserm Handeln vermißte sittliche Harmonie führt leicht eine solche Stimmung herbey, in der wir das Vernunftlose wie eine Person anreden, und demselben, als wenn es wirklich mit einer Versuchung zum Gegentheil zu kämpfen gehabt hätte, seine ewige Gleichförmigkeit zum Verdienst machen, seine ruhige Haltung beneiden. Es steht uns in einem solchen Augenblicke wohl an, daß wir das Prärogativ unserer Vernunft für einen Fluch und für ein Übel halten, und über dem lebhaften Gefühl der Unvollkommenheit unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und Bestimmung aus den Augen setzen. 

Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermuth unserer Freyheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren und hören im fernen Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frey geworden, und haben beydes verloren. Daraus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur; eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verlust der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern kann nur der moralische trauren. 

Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Natur, ob deine Trägheit nach ihrer Ruhe, ob deine beleidigte Sittlichkeit nach ihrer Übereinstimmung schmachtet? Frage dich wohl, wenn die Kunst dich aneckelt und die Mißbräuche in der Gesellschaft dich zu der leblosen Natur in die Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubungen, ihre Lasten, ihre Mühseligkeiten, oder ob es ihre moralische Anarchie, ihre Willkür, ihre Unordnungen sind, die du an ihr verabscheust? In jene muß dein Muth sich mit Freuden stürzen und dein Ersatz muß die Freyheit selbst seyn, aus der sie fliessen. Wohl darfst du dir das ruhige Naturglück zum Ziel in der Ferne aufstecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Würdigkeit ist. Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Verhältnisse, über die Unsicherheit des Besitzes, über Undank, Unterdrückung, Verfolgung; allen Übeln der Kultur mußt du mit freyer Resignation dich unterwerfen, mußt sie als die Naturbedingungen des Einzig guten respektieren; nur das Böse derselben mußt du, aber nicht bloß mit schlaffen Thränen, beklagen. Sorge vielmehr dafür; daß du selbst unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frey, unter jenem launischen Wechsel beständig, unter jener Anarchie gesetzmäßig handelst. Fürchte dich nicht vor der Verwirrung ausser dir, aber vor der Verwirrung in dir; strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit; strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Thätigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht werth. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freyem Bewußtseyn und Willen das Gesetz zu ergreifen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen. 

Aber wenn du über das verlorene Glück der Natur getröstet bist, so laß ihre Vollkommenheit deinem Herzen zum Muster dienen. Trittst du heraus zu ihr aus deinem künstlichen Kreis, steht sie vor dir in ihrer großen Ruhe, in ihrer naiven Schönheit, in ihrer kindlichen Unschuld und Einfalt; dann verweile bey diesem Bilde, pflege dieses Gefühl, es ist deiner herrlichsten Menschheit würdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit ihr tauschen zu wollen, aber nimm sie in dich auf und strebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Prärogativ zu vermählen, und aus beydem das Göttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine liebliche Idylle, in der du dich selbst immer wieder findest, aus den Verirrungen der Kunst, bey der du Muth und neues Vertrauen sammelst zum Laufe und die Flamme des Ideals, die in den Stürmen des Lebens so leicht erlischt, in deinem Herzen von neuem entzündest. 

Wenn man sich der schönen Natur erinnert, welche die alten Griechen umgab; wenn man nachdenkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem glücklichen Himmel mit der freyen Natur leben konnte, wie sehr viel näher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweise, seine Sitten der einfältigen Natur lagen, und welch ein treuer Abdruck derselben seine Dichterwerke sind, so muß die Bemerkung befremden, daß man so wenige Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neuern an Naturscenen und an Naturcharaktere hangen können, bey demselben antrift. Der Grieche ist zwar im höchsten Grad genau, treu, umständlich in Beschreibung derselben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vorzüglicheren Herzensantheil, als der es auch in Beschreibung eines Anzuges, eines Schildes, einer Rüstung, eines Hausgeräthes oder irgend eines mechanischen Produktes ist. Er scheint, in seiner Liebe für das Objekt, keinen Unterschied zwischen demjenigen zu machen, was durch sich selbst und dem was durch die Kunst und durch den menschlichen Willen ist. Die Natur scheint mehr seinen Verstand und seine Wißbegierde, als sein moralisches Gefühl zu interessieren; er hängt nicht mit Innigkeit, mit Empfindsamkeit, mit süßer Wehmuth an derselben, wie wir Neuern. Ja, indem er sie in ihren einzelnen Erscheinungen personifiziert und vergöttert, und ihre Wirkungen als Handlungen freyer Wesen darstellt, hebt er die ruhige Nothwendigkeit in ihr auf, durch welche sie für uns gerade so anziehend ist. Seyen ungedultige Phantasie führt ihn über sie hinweg zum Drama des menschlichen Lebens. Nur das Lebendige und Freye, nur Charaktere, Handlungen, Schicksale, und Sitten befriedigen ihn, „und wenn wir in gewissen moralischen Stimmungen des Gemüths wünschen können, den Vorzug unserer Willensfreyheit, der uns so vielem Streit mit uns selbst, so vielen Unruhen und Verirrungen aussetzt, gegen die wahllose, aber ruhige Nothwendigkeit des Vernunftlosen hinzugeben, so ist, gerade umgekehrt, die Phantasie des Griechen geschäftig, die menschliche Natur schon in der unbeseelten Welt anzufangen, und da, wo eine blinde Nothwendigkeit herrscht, dem Willen Einfluß zu geben.“ 

Woher wohl dieser verschiedene Geist? Wie kommt es, daß wir, die in allem, was Natur ist, von den Alten so unendlich weit übertroffen werden, gerade hier der Natur in einem höheren Grade huldigen, mit Innigkeit an ihr hangen, und selbst die leblose Welt mit der wärmsten Empfindung umfassen können? Daher kommt es, weil die Natur bey uns aus der Menschheit verschwunden ist, und wir sie nur ausserhalb dieser, in der unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unsere größere Naturmäßigkeit, ganz im Gegentheil die Naturwidrigkeit unserer Verhältnisse, Zustände und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit und Simplicität, der, wie die moralische Anlage, aus welcher er fliesset, unbestechlich und unaustilgbar in allen menschlichen Herzen liegt, in der physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deßwegen ist das Gefühl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen. Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn uns jeder Fußstapfe der Natur ausser uns auf unsre Kindheit zurückführt. 

Sehr viel anderes war es mit den alten Griechen. Bey diesen artete die Kultur nicht so weit aus, daß die Natur darüber verlassen wurde. Der ganze Bau ihres gesellschaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf einem Machwerk der Kunst errichtet; ihre Götterlehre selbst war die Eingebung eines naiven Gefühls, die Geburt einer fröhlichen Einbildungskraft, nicht der grübelnden Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Nationen; Da also der Grieche die Natur in der Menschheit nicht verlohren hatte, so konnte er ausserhalb dieser, auch nicht von ihr überrascht werden, und kein so dringendes Bedürfniß nach Gegenständen haben, in denen er sie wieder fand. Einig mit sich selbst, und glücklich im Gefühl seiner Menschheit, mußte er bey dieser als seinem Maximum stille stehen, und alles andere derselben zu nähern bemüht seyn; wenn wir, uneinig mit uns selbst, und unglücklich in unsern Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus derselben herauszufliehen, und eine so mislungene Form aus unsern Augen zu rücken. 

Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das was die Alten hatten; es ist vielmehr einerley mit demjenigen, welches wir für die Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das natürliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirthen ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las. Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.

So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem menschlichen Leben als Erfahrung und als das (handelnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als Gegenstand aufgehen. Diejenige Nation, welche es zugleich in der Unnatur und in der Reflexion darüber am weitesten gebracht hatte, mußte zuerst von dem Phänomen des Naiven am stärksten gerührt werden, und demselben einen Nahmen geben. Diese Nation waren, so viel ich weiß, die Franzosen. Aber die Empfindung des Naiven und das Interesse an demselben ist natürlicherweise viel älter, und datirt sich schon von dem Anfang der moralischen und ästhetischen Verderbniß. Diese Veränderung in der Empfindungsweise ist zum Beyspiel schon äusserst auffallend im Euripides, wenn man diesen mit seinen Vorgängern besonders dem Äschylus vergleicht, und doch war jener Dichter der Günstling seiner Zeit. Die nehmliche Revolution läßt sich auch unter den alten Historikern nachweisen. Horatz, der Dichter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt die ruhige Glückseligkeit in seinem Tibur, und ihn könnte man als den wahren Stifter dieser sentimentalischen Dichtungsart nennen, so wie er auch in derselben ein noch nicht übertroffenes Muster ist. Auch im Properz, Virgil u. a. findet man Spuren dieser Empfindungsweise, weniger beym Ovid, dem es dazu an Fülle des Herzens fehlte, und der in seinem Exil zu Tomi die Glückseligkeit schmerzlich vermißt, die Horaz in seinem Tibur so gern entbehrte. 

Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr seyn können, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten. Sie werden also entweder Natur seyn, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus entspringen zwey ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird. Alle Dichter, die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in der sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre vorübergehende Gemüthsstimmung Einfluß haben, entweder zu den naiven oder zu den sentimentalischen gehören. 

Der Dichter einer naiven und geistreichen Jugendwelt, so wie derjenige, der in den Zeitaltern künstlicher Kultur ihm am nächsten kommt, ist kalt, gleichgültig, verschlossen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und spröde, wie die jungfräuliche Diana in ihren Wäldern, entflieht er dem Herzen, das ihn sucht, dem Verlangen, das ihn umfassen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn schmelzen, oder den strengen Gürtel seiner Nüchternheit lösen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenstand behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlichkeit. Das Objekt besitzt ihn gänzlich, sein Herz liegt nicht, wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, sondern will wie das Gold in der Tiefe gesucht seyn. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk; Er ist das Werk und das Werk ist Er; man muß des ersteren schon nicht werth oder nicht mächtig oder schon satt seyn, um nach Ihm nur zu fragen. 

So zeigt sich z. B. Homer unter den Alten und Shakespeare unter den Neuern; zwey höchst verschiedene, durch den unermeßlichen Abstand der Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in diesem Charakterzuge völlig eins: Als ich in einem sehr frühen Alter den letzten Dichter zuerst kennen lernte, empörte mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen, die Herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im König Lear, im Macbeth u. s. f. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da fest hielt, wo meine Empfindung fortheilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern still gestanden wäre. Durch die Bekanntschaft mit neuern Poeten verleitet, in dem Werk den Dichter zuerst aufzusuchen, seinem Herzen zu begegnen, mit ihm gemeinschaftlich über seinen Gegenstand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt anzuschauen, war es mir unerträglich, daß der Poet sich hier gar nirgends fassen ließ und mir nirgends Rede stehen wollte. Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Verehrung und war mein Studium, ehe ich sein Individuum lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht fähig, die Natur aus der ersten Hand zu verstehen. Nur ihr durch den Verstand reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die sentimentalischen Dichter der Franzosen und auch der Deutschen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade die rechten Subjekte. Übrigens schäme ich mich dieses Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein ähnliches fällte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuschreiben. 

Dasselbe ist mir auch mit dem Homer begegnet, den ich in einer noch spätern Periode kennen lernte. Ich erinnere mich jetzt der merkwürdigen Stelle im VI Buch der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf einander stossen, und nachdem sie sich als Gastfreunde erkannt, einander Geschenke geben. Diesem rührenden Gemählde der Pietät, mit der die Gesetze des Gastrechts selbst im Kriege beobachtet wurden, kann eine Schilderung des ritterlichen Edelmuts im Ariost an die Seite gestellt werden, wo zwey Ritter und Nebenbuhler, Ferrau und Rinald, dieser ein Christ, jener ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wunden bedeckt, Friede machen, und um die flüchtige Angelika einzuhohlen, das nehmliche Pferd besteigen. Beyde Beyspiele, so verschieden sie übrigens seyn mögen, kommen einander in der Wirkung auf unser Herz beynahe gleich, weil beyde den schönen Sieg der Sitten über die Leidenschaft mahlen, und uns durch Naivetät der Gesinnungen rühren. Aber wie ganz verschieden nehmen sich die Dichter bey Beschreibung dieser ähnlichen Handlung. Ariost, der Bürger einer späteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Erzählung dieses Vorfalls, seine eigene Verwunderung, seyne Rührung nicht verbergen. Das Gefühl des Abstandes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter charakterisieren, überwältigt ihn. Er verläßt auf einmal das Gemählde des Gegenstandes und erscheint in eigener Person: Man kennt die schöne Stanze und hat sie immer vorzüglich bewundert:

O Edelmuth der alten Rittersitten!
Die Nebenbuler waren, die entzweyt
Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
Am ganzen Leib vom feindlich wilden Streit,
Frey vom Verdacht und in Gemeinschaft ritten
Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte
Biß wo der Weg sich in zwey Straßen theilte. 

Und nun der alte Homer! Kaum erfährt Diomed aus Glaukus seines Gegners, Erzählung, daß dieser von Väterzeiten her ein Gastfreund seines Geschlechts ist, so steckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und macht mit ihm aus, daß sie einander im Gefechte künftig ausweichen wollen. Doch man höre den Homer selbst: 

„Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos,
Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich besuche.
Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel.
Viel ja sind der Troer mir selbst und der rühmlichen Helfer,
Daß ich tödte, wen Gott mir gewährt und die Schenkel erreichen;
Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du erlegest.
Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern
Schaun, wie wir Gäste zu seyn aus Väterzeiten uns rühmen.
Also redeten jene, herab von den Wagen sich schwingend,
Faßten sie beide einander die Händ und gelobten sich Freundschaft.“ 

Schwerlich dürfte ein moderner Dichter (wenigstens schwerlich einer, der es in der moralischen Bedeutung dieses Wortes ist) auch nur biß hieher gewartet haben um seine Freude an dieser Handlung zu bezeugen. Wir würden es ihm um so leichter verzeyhen, da auch unser Herz beym Lesen einen Stillstand macht, und sich von dem Objekte gern entfernt, um in sich selbst zu schauen. Aber von allem diesem keine Spur im Homer; als ob er etwas alltägliches berichtet hätte, ja als ob er selbst kein Herz in dem Busen trüge, fährt er in seiner trockenen Wahrhaftigkeit fort: 

„Doch den Glaukus erregte Zeus, daß er ohne Besinnung
Gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit ehernen,
Wechselte, hundert Farren werth, neun Farren die andern 

Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben kaum mehr möglich, wenigstens auf keine andere Weise möglich, als daß sie in ihrem Zeitalter wild laufen, und durch ein günstiges Geschick vor dem verstümmelnden Einfluß desselben geborgen werden. Aus der Societät selbst können sie nie und nimmer hervorgehen; aber ausserhalb derselben erscheinen sie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge die man anstaunt, und als ungezogene Söhne der Natur, an denen man sich ärgert. So wohlthätige Erscheinungen sie für den Künstler sind, der sie studiert, und für den ächten Kenner, der sie zu würdigen versteht, so wenig Glück machen sie im Ganzen und bey ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrschers ruht auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Musen gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den eigentlichen Zaunhütern des Geschmacks, werden sie als Grenzstörer gehaßt, die man lieber unterdrücken möchte; denn selbst Homer dürfte es bloß der Kraft eines mehr als tausendjährigen Zeugnisses zu verdanken haben, daß ihn diese Geschmacksrichter gelten lassen; auch wird es ihnen sauer genug, ihre Regeln gegen sein Beyspiel, und sein Ansehen gegen ihre Regeln zu behaupten.

Im nächsten Stück einige Worte über die sentimentalischen Dichter.

 

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