Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Die Horen 11/1795

 

IV. 

Über die Gefahr ästhetischer Sitten.

In einem der vorigen Aufsätze ist von den Nachtheilen geredet worden, welche aus einer übertriebenen Empfindlichkeit für das Schöne der Form und aus zu weit ausgedehnten ästhetischen Foderungen für das Denken und für die Einsicht erwachsen. Von weit grösserer Bedeutung aber sind eben diese Anmaßungen des Geschmackes, wenn sie den Willen zu ihrem Gegenstand haben; denn es ist doch etwas ganz anders, ob uns der übertriebene Hang für das Schöne an Erweiterung unseres Wissens verhindert, oder ob er den Charakter verderbt, und uns Pflichten verletzen macht. Belletristische Willkührlichkeit im Denken ist freilich etwas sehr Übles, und muß den Verstand verfinstern; aber eben diese Willkührlichkeit auf Maximen des Willens angewandt, ist etwas Böses, und muß unausbleiblich das Herz verderben. Und zu diesem gefahrvollen Extrem neigt die ästhetische Verfeinerung den Menschen, sobald er sich dem Schönheitsgefühle ausschliessend anvertraut, und den Geschmack zum unumschränkten Gesetzgeber seines Willens macht. 

Die moralische Bestimmung des Menschen fodert völlige Unabhängigkeit des Willens von allem Einfluß sinnlicher Antriebe, und der Geschmack, wie wir wissen, arbeitet ohne Unterlaß daran, das Band zwischen der Vernunft und den Sinnen immer inniger zu machen. Nun bewirkt er dadurch zwar, daß die Begierden sich veredeln, und mit den Foderungen der Vernunft übereinstimmender werden; aber selbst darauf kann für die Moralität zuletzt große Gefahr entstehen. 

Dafür nehmlich, daß bei dem ästhetisch verfeinerten Menschen die Einbildungskraft auch in ihrem freien Spiele sich nach Gesetzen richtet, und daß der Sinn sich gefallen läßt, nicht ohne Beistimmung der Vernunft zu genießen, wird von der Vernunft gar leicht der Gegendienst verlangt, in dem Ernst ihrer Gesetzgebung sich nach dem Interesse der Einbildungskraft zu richten, und nicht ohne Beistimmung der sinnlichen Triebe dem Willen zu gebieten. Die sittliche Verbindlichkeit des Willens, die doch ganz ohne alle Bedingung gilt, wird unvermerkt als ein Kontrakt angesehen, der den Einen Theil nur so lange bindet; als der andere ihn erfüllt. Die zufällige Zusammenstimmung der Pflicht mit der Neigung wird endlich als nothwendige Bedingung festgesetzt, und so die Sittlichkeit in ihren Quellen vergiftet. 

Wie der Karakter nach und nach in diese Verderbniß gerathe, läßt sich auf folgende Art begreiflich machen. 

So lange der Mensch noch ein Wilder ist, seine Triebe blos auf materielle Gegenstände gehen, und ein Egoism von der gröbern Art seine Handlungen leitet, kann die Sinnlichkeit nur durch ihre blinde Stärke der Moralität gefährlich seyn, und sich den Vorschriften der Vernunft blos als eine Macht widersetzen. Die Stimme der Gerechtigkeit, der Mässigung, der Menschlichkeit wird von der lauter sprechenden Begierde überschrien. Er ist fürchterlich in seiner Rache, weil er die Beleidigung fürchterlich empfindet. Er raubt und mordet, weil seine Gelüste dem schwachen Zügel der Vernunft noch zu mächtig sind. Er ist ein wüthendes Thier gegen andre, weil ihn selbst der Naturtrieb noch thierisch beherrscht. 

Vertauscht er aber diesen wilden Naturstand mit dem Zustande der Verfeinerung, veredelt der Geschmack seine Triebe, weis’t so er denselben würdigere Objekte in der moralischen Welt an, mässigt er ihre rohen Ausbrüche durch die Regel der Schönheit, so kann es geschehen, daß eben diese Triebe, die vorher nur durch ihre blinde Gewalt furchtbar waren, durch einen Anschein von Würde und durch eine angemaßte Autorität der Sittlichkeit des Karakters noch weit gefährlicher werden, und unter der Maske von Unschuld, Adel und Reinigkeit eine weit schlimmere Tyranney gegen den Willen ausüben. 

Der Mensch von Geschmack entzieht sich freiwillig dem groben Joch des Instinkts. Er unterwirft seinen Trieb nach Vergnügen der Vernunft, und versteht sich dazu, die Objekte seiner Begierden sich von dem denkenden Geist bestimmen zu lassen. Je öfter nun der Fall sich erneuert, daß das moralische und das ästhetische Urtheil, das Sittengefühl und das Schönheitsgefühl, in demselben Objekte zusammentreffen und in demselben Ausspruche sich begegnen, desto mehr wird die Vernunft geneigt, einen so sehr vergeistigten Trieb für einen der Ihrigen zu halten, und ihm zuletzt das Steuer des Willens mit uneingeschränkter Vollmacht zu übergeben. 

So lange noch Möglichkeit vorhanden ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl keinen positiven Schaden anrichten, obgleich, streng genommen, für die Moralität der einzelnen Handlungen, dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall verändert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben – wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Geschmack empört, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen sieht, das die Vernunft, als moralische Richterinn, zu verwerfen gezwungen ist. 

Jetzt nemlich tritt auf einmal die Nothwendigkeit ein, die Ansprüche des moralischen und ästhetischen Sinnes, die ein so langes Einverständniß beinahe unentwirrbar vermengte, auseinander zu setzen, ihre gegenseitige Befugnisse zu bestimmen, und den wahren Gewalthaber im Gemüth zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repräsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht, und die lange Observanz, den Eingebungen des Geschmacks unmittelbar zu gehorchen, und sich dabei wohl zu befinden, mußte diesem unvermerkt den Schein eines Rechts erwerben. Bei der Untadelhaftigkeit, womit der Geschmack seine Aussicht über den Willen verwaltete, konnte es nicht fehlen, daß man seinen Aussprüchen nicht eine gewisse Achtung zugestand, und diese Achtung ist es eben, was die Neigung jetzt mit verfänglicher Dialektik gegen die Gewissenspflicht geltend macht. 

Achtung ist ein Gefühl, welches nur für das Gesetz und was demselben entspricht kann empfunden werden. Was Achtung fodern kann, macht auf unbedingte Huldigung Anspruch. Die veredelte Neigung, welche sich Achtung zu erschleichen gewußt hat, will also der Vernunft nicht mehr untergeordnet, sie will ihr beigeordnet seyn. Sie will für keinen treubrüchigen Unterthan gelten, der sich gegen seinen Oberherrn auflehnt; sie will als eine Majestät angesehen seyn, und mit der Vernunft, als sittliche Gesetzgeberinn wie Gleich mit Gleichem handeln. Die Wagschaalen stehen also, wie sie vorgiebt, dem Rechte nach gleich, und wie sehr ist da nicht zu fürchten, daß das Interesse den Ausschlag geben werde! 

Unter allen Neigungen, die von dem Schönheitsgefühl abstammen, und das Eigenthum feiner Seelen sind, empfiehlt keine sich dem moralischen Gefühl so sehr, als der veredelte Affekt der Liebe, und keine ist fruchtbarer an Gesinnungen, die der wahren Würde des Menschen entsprechen. Zu welchen Höhen trägt sie nicht die menschliche Natur, und was für göttliche Funken weiß sie nicht oft auch aus gemeinen Seelen zu schlagen! Von ihrem heiligen Feuer wird jede eigennützige Neigung verzehrt, und reiner können Grundsätze selbst die Keuschheit des Gemüths kaum bewahren, als die Liebe des Herzens Adel bewacht. Oft, wo jene noch kämpften, hat die Liebe schon für sie gesiegt, und durch ihre allmächtige Thatkraft Entschlüsse beschleunigt, welche die bloße Pflicht der schwachen Menschheit umsonst würde abgefodert haben. Wer sollte wohl einem Affekt mistrauen, der das Vortrefliche in der menschlichen Natur so kräftig in Schutz nimmt, und den Erbfeind aller Moralität, den Egoism, so siegreich bestreitet? 

Aber man wage es ja nicht mit diesem Führer, wenn man nicht schon durch einen bessern gesichert ist. Der Fall soll eintreten, daß der geliebte Gegenstand unglücklich ist, daß er um unsertwillen unglücklich ist, daß es von uns abhängt, ihn durch Aufopferung einiger moralischen Bedenklichkeiten glücklich zu machen. „Sollen wir ihn leiden lassen, um ein reines Gewissen zu behalten? Erlaubt dieses der uneigennützige, großmüthige, seinem Gegenstand ganz dahin gegebene, über seinen Gegenstand ganz sich selbst vergessende Affekt? Es ist wahr, es läuft wider unser Gewissen, von dem unmoralischen Mittel Gebrauch zu machen, wodurch ihm geholfen werden kann – aber heißt das lieben, wenn man bei dem Schmerz des Geliebten noch an sich selbst denkt? Wir sind doch also mehr für uns besorgt, als für den Gegenstand unserer Liebe, weil wir lieber diesen unglücklich sehen als es durch die Vorwürfe unsers Gewissens selbst seyn wollen?“ So sophistisch weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns, wenn sie seinem Interesse entgegensteht, als eine Anregung der Selbstliebe verächtlich zu machen, und unsre sittliche Würde als ein Bestandstück unserer Glückseligkeit vorzustellen, welche zu veräussern in unsrer Willkühr steht. Ist unser Karakter nicht durch gute Grundsätze fest verwahrt, so werden wir schändlich handeln bei allem Schwung einer exaltierten Einbildungskraft, und über unsere Selbstliebe einen glorreichen Sieg zu erfechten glauben, indem wir, gerade umgekehrt, ihr verächtliches Opfer sind. In dem bekannten französischen Roman Liaisons dangereuses findet man ein sehr treffendes Beispiel dieses Betruges, den die Liebe einer sonst reinen und schönen Seele spielt. Die Präsidentinn von Tourvel ist aus Überraschung gefallen, und nun sucht sie ihr gequältes Herz durch den Gedanken zu beruhigen, daß sie ihre Tugend der Großmuth geopfert habe. 

Die sogenannten unvollkommenen Pflichten sind es vorzüglich, die das Schönheitsgefühl in Schutz nimmt, und nicht selten gegen die vollkommenen behauptet. Da sie der Willkühr des Subjekts weit mehr anheim stellen, und zugleich einen Glanz von Verdienstlichkeit von sich werfen, so empfehlen sie sich dem Geschmack ungleich mehr, als die vollkommenen, die unbedingt mit strenger Nöthigung gebieten. Wie viele Menschen erlauben sich nicht, ungerecht zu seyn, um großmüthig seyn zu können! Wie viele giebt es nicht die um einem Einzelnen wohl zu thun, die Pflicht gegen das Ganze verletzen, und umgekehrt; die sich eher eine Unwahrheit als eine Indelikatesse, eher eine Verletzung der Menschlichkeit als der Ehre verzeihen, die, um die Vollkommenheit ihres Geistes zu beschleunigen, ihren Körper zu Grund richten, und, um ihren Verstand auszuschmücken, ihren Karakter erniedrigen. Wie viele giebt es nicht, die selbst vor einem Verbrechen nicht erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal politischer Glückseligkeit durch alle Greuel der Anarchie verfolgen, Gesetze in den Staub treten, um für bessere Platz zu machen, und kein Bedenken tragen, die gegenwärtige Generation dem Elende Preiß zu geben, um das Glück der nächstfolgenden dadurch zu bevestigen! Die scheinbare Uneigennützigkeit gewisser Tugenden giebt ihnen einen Anstrich von Reinigkeit, der sie dreist genug macht, der Pflicht ins Angesicht zu trotzen, und manchem spielt seine Phantasie den seltsamen Betrug, daß er über die Moralität noch hinaus, und vernünftiger als die Vernunft seyn will. 

Der Mensch von verfeinertem Geschmack ist in diesem Stück einer sittlichen Verderbniß fähig, vor welcher der rohe Natursohn, eben durch seine Rohheit gesichert ist. Bei dem letztern ist der Abstand zwischen dem, was der Sinn verlangt, und dem, was die Pflicht gebietet, so abstechend und so grell, und seine Begierden haben so wenig geistiges, daß sie sich, auch wenn sie ihn noch so despotisch beherrschen, doch nie bei ihm in Ansehen setzen können. Reitzt ihn also die überwiegende Sinnlichkeit zu einer unrechten Handlung, so kann er der Versuchung zwar unterliegen, aber er wird sich nicht verbergen, daß er fehlt, und der Vernunft sogar in demselben Augenblick huldigen, wo er ihrer Vorschrift entgegen handelt. Der verfeinerte Zögling der Kunst hingegen will es nicht Wort haben, daß er fällt, und um sein Gewissen zu beruhigen, belügt er es lieber. Er möchte zwar gern der Begierde nachgeben, aber ohne dadurch in seiner eigenen Achtung zu sinken. Wie bewerkstelligt er nun dieses? Er stürzt die höhere Autorität vorher um, die seiner Neigung entgegensteht, und ehe er das Gesetz übertritt, zieht er die Befugniß des Gesetzgebers in Zweifel. Sollte man es glauben, daß ein verkehrter Wille den Verstand so verkehren könne? Alle Würde, auf welche eine Neigung Anspruch machen kann, hat sie blos ihrer Übereinstimmung mit der Vernunft zu verdanken, und nun ist sie so verblendet als dreist, auch bei ihrem Widerstreit mit der Vernunft sich dieser Würde anzumaßen, ja sich derselben sogar gegen das Ansehen der Vernunft zu bedienen. 

So gefährlich kann es für die Moralität des Karakters ausschlagen, wenn zwischen den sinnlichen und den sittlichen Trieben, die doch nur im Ideale und nie in der Wirklichkeit vollkommen einig seyn können, eine zu innige Gemeinschaft herrscht. Zwar die Sinnlichkeit wagt bei dieser Gemeinschaft nichts, da sie nichts besitzt, was sie nicht hingeben müßte, sobald die Pflicht spricht und die Vernunft das Opfer fodert. Für die Vernunft aber, als sittliche Gesetzgeberin, wird desto mehr gewagt, wenn sie sich von der Neigung schenken läßt, was sie ihr abfodern könnte; denn unter dem Schein von Freiwilligkeit kann sich leicht das Gefühl der Verbindlichkeit verlieren, und ein Geschenk läßt sich verweigern, wenn der Sinnlichkeit einmal die Leistung beschwerlich fallen sollte. Ungleich sicherer ist es also für die Moralität des Karakters, wenn die Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl wenigstens momentweise aufgehoben wird, wenn die Vernunft öfters unmittelbar gebietet, und dem Willen seinen wahren Beherrscher zeigt. 

Man sagt daher ganz richtig, daß die ächte Moralität sich nur in der Schule der Widerwärtigkeit bewähre, und eine anhaltende Glückseligkeit leicht eine Klippe der Tugend werde. Glückselig nenne ich den, der um zu genießen, nicht nöthig hat, unrecht zu thun, und um recht zu handeln, nicht nöthig hat, zu entbehren. Der ununterbrochen glückliche Mensch sieht also die Pflicht nie von Angesicht, weil seine gesetzmäßigen und geordneten Neigungen das Gebot der Vernunft immer antizipieren, und keine Versuchung zum Bruch des Gesetzes das Gesetz bei ihm in Erinnerung bringt. Einzig durch den Schönheitssinn, den Statthalter der Vernunft in der Sinnenwelt, regiert, wird er zu Grabe gehen, ohne die Würde seiner Bestimmung zu erfahren. Der Unglückliche hingegen, wenn er zugleich ein Tugendhafter ist, genießt den erhabenen Vorzug, mit der göttlichen Majestät des Gesetzes unmittelbar zu verkehren, und da seiner Tugend keine Neigung hilft, die Freiheit des Dämons noch als Mensch zu beweisen.

 

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