Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Die Horen 8/1795

 

IV. 

Über griechische und gothische Baukunst.

Ich habe einst bei einem, ich weiß nicht welchem, französischen Schriftsteller folgende Worte gelesen: „le but de toute architecture est d’imiter la nature: mais pendant que l’architecte grec représente la nature portante, le goth nous fait voir celle, qui germe.“ Es liegt etwas Feines in dieser Bemerkung, ob man gleich von der Natur gar nicht sagen kann, daß sie trage. Es liegt etwas darin, denn in der That sieht jeder altgothische Thurm mit seinen Ecken und Spitzen einem Baum ähnlich, von dem sich Zweige gewaltsam abreissen, auch scheinen alle Verzierungen des Hauptgebäudes aus der Natur geschöpft zu seyn. Wenn des Griechen ganzes Augenmerk auf Sicherheit geht, wenn selbst seine Verzierungen in dem Princip der Sicherheit ihren Grund zu finden scheinen, wenn die Trygliphen unterstützen, die Hohlleisten und Wülste nur soweit hineingehen oder hervorragen müssen, als die sichere Ruhe des Ganzen es erfordert; errichtet der Gothe auf dünne Pfeiler ungeheure, bis in die Wolken reichende Gewölber, bauet er so, daß alles zu fallen scheint, und doch nicht fällt, und bringt Fenster, Spitzen und Rosen häufig zur Zierde an. 

Diese so auffallende Unterschied zwischen dem Griechischen und Gothischen Gebäude, leitet natürlich auf die Erörterung folgender Fragen:

1) Was beabsichtigen beyde Künstler? 

2) Wie kommt es, daß bey einerley Zweck der nützlichen Bauerey, die Baukunst, als Schönheit so verschieden ausfiel? Und 

3) Wenn es für die Schönheit eines Kunstwerks ein regulatives Princip á priori giebt, welches wird dasselbe für die Baukunst seyn?

Zur Beantwortung dieser Fragen, ja selbst zum bessern Verständniß derselben, glaube ich einige Betrachtungen über Kunstwerke vorausschicken zu dürfen. 

Einige Kunstrichter sind der Meinung, daß ein Werk der Kunst drey Einheiten habe: Einheit des Zweckes, der Regel und des Begriffes. Bleiben wir bey unserm Gegenstande: so gäbe die Bequemlichkeit des Gebäudes die Einheit des Zweckes, dessen Symmetrie die der Regel, und die Wahl der Verzierungen die des Begriffes. 

Ich weiß nicht, ob dieses so ganz richtig ist. Bequemlichkeit des Gebäudes scheint mehr die Brauchbarkeit als die Schönheit desselben zu betreffen: ein Bauernhauß kann sehr bequem eingerichtet seyn, ohne sich es je beykommen zu lassen, auf Schönheit Ansprüche zu machen; und Symmetrie ist an und für sich eine so schwankende Vorstellung, daß, wenn man ihren Grund nicht etwas tiefer sucht, man Alles und Nichts für Symmetrie halten kann. Sie besteht nicht bloß in dem Verhältniß der Gleichheit der Theile des Gebäudes zu einander; sondern in dem leicht zu übersehenden Verhältniß einer Zahl zu einer andern überhaupt. So gehört es z. B. auch zur Symmetrie, daß die Höhe der Thüren zu ihrer Breite, sich wie 5 : 2 verhalte; und da entsteht dann die Frage: welche Symmetrie ist schön? Fenster je zwey und zwey dicht nebeneinander, ohne Zwischenpfeiler, aber Paarweise mit einem Zwischenraum von drey Fuß angebracht, geben eine sehr symmetrische, aber bey aller Symmetrie, eine unerträglich häßliche Façade. Diese Frage, die zu beantworten gar nicht zu meinem Plane gehört, zeigt aber, wie ich glaube, doch so viel an, daß die Einheit des Zweckes und der Symmetrie, wo nicht zur Schönheit des Gebäudes ganz ausserwesentliche, doch gewiss nur der Einheit des Begriffes untergeordnete Bedingungen sind.

Es läßt sich aber, meiner Meinung nach, zeigen, daß die Schönheit des Gebäudes, so wie aller Kunstwerke überhaupt, nur auf der Einheit des Begriffes beruhe, und die übrigen Dinge nur die Übersicht dieser Einheit erleichtern, nicht sie selbst vergrößern. 

Zu diesem Behufe aber müssen wir den Unterschied bestimmt angeben, der sich zwischen einem Werke des Künstlers und dem des Handwerkers, oder zwischen dem Künstler und Handwerker vorfindet. 

Man nennt den im strengsten Sinne des Wortes einen Handwerker, dessen Erzeugnisse nur zum Gebrauche eines bestimmten Individuums verfertigt werden, und die auch nur für dasselbe vollkommen passen. Schuster, Schneider sind im strengsten Verstande Handwerker: sie arbeiten für einen bestimmten Fuß, einen bestimmten Körper, und ihre Arbeit passt niemand anders genau, als dem Subjekt, für das sie gemacht worden. 

Hingegen sind die Erzeugnisse des eigentlichen Künstlers für gar niemand bestimmt gemacht, müssen aber allen passen, die davon den Gebrauch machen, den man von Kunstsachen machen kann. Wer sie sieht, muß von ihrer Schönheit eingenommen werden, muß die Behaglichkeit dadurch empfinden, die der Anblick des Schönen gewährt, und muß es fühlen, daß des Künstlers Hand das für den äussern Sinn schuf, wovon der innere Sinn des Kenners schon längst belebt und erfüllt war. 

Je mehr Menschen an dem Werke zu tadeln finden, je weniger man mit jedem besondern Theile zufrieden seyn kann, und je enger der Künstler sich auf eine besondere Classe von Menschen beschränkt, für die er arbeiten, denen er gefallen will, desto mehr sinkt derselbe zum Handwerker herab; und Gegenstände der Kunst können handwerksmäsig betrieben werden, wenn sie nur zu irgend einem bestimmten Gebrauche tauglich sind, aber übrigens keinem Menschen passen. Beispiele hierzu liefern die Schilder an den Gasthäusern u. s. w. 

Dieser hohe Anspruch an den Künstler, daß sein Werk allen gefallen soll, ist freylich nur eine Idee. In diesem Verstande wird es nie einen Künstler gegeben haben, noch geben können: an Apelles Meisterstück fand ein Schuster etwas auszusetzen. Aber sie dient uns eben deshalb, wie jede Idee, als regulatives Princip. Der Künstler soll streben, allen zu gefallen, gelänge ihm auch dieß nie. 

Dieß Streben nach allgemeinem Beyfall, das dem Künstler seinen Namen erwirbt, setzt aber voraus, daß er sich bey dem Entwurf seiner Arbeit, bey dem seiner Einbildungskraft vorschwebenden Ideal das gesammte Urtheil aller Menschen über den darzustellenden Gegenstand zur Einheit gemacht habe. Der Künstler soll allen gefallen, und er muß allen gefallen können; aber ohne diese in der Vernunft gehegte Einheit wäre es dem Künstler schlechterdings unmöglich, durch blosse Abstraktion von einzelnen Urtheilen, den Gegenstand so darzustellen, daß er wenigstens das Streben allen Menschen zu gefallen verrathe. Praktisch läßt sich ohne Einheit des Begriffs nichts bewirken; und der Künstler, der nicht von einem Begriffe ausgeht, der nicht die Absicht hat, einen Begriff dem Inhalte seiner Arbeit zum Grunde zu legen, der daher bloß gefällige Formen willkührlich zusammenträgt, in denen er und der Beobachter die Einheit hintennach hineinlegen, ein solcher Künstler wird stets – wenn er gar den Namen Künstler verdient – mehr Copist, als Originalkünstler seyn: er hat abgeschrieben, ohne zu wissen, was in der Urschrift steht. 

Auf dieser Einheit des Begriffs beruht auch die Möglichkeit des Geschmacks á priori beym Kenner. So sehr nehmlich der empirische Geschmack in jedem Menschen verschieden seyn kann, und wirklich verschieden ist; so heißt doch Geschmack á pirori nichts anders, als die Gabe die Einheit des Begriffes, die der Künstler aufgestellt, leicht, wenn auch nicht deutlich zu erkennen, und davon gerührt zu werden. Hat daher der Künstler keine Einheit des Begriffes zum Innhalte seiner Arbeit gewählt, wie soll sie der Kenner herausfinden können? Einzelne Theile wird er bewundern, ohne zu wissen, was er aus dem Ganzen machen soll. 

Rubens fleischigte Maßen, und der Angelica Kaufmann schlanke, svelte Figuren, gefallen beyde; und so verschieden die Darstellung ähnlicher Objekte von beyden Künstlern bewirkt worden, so verschieden auch das Urtheil des Beobachters seyn mag, wenn er sich eine Freundinn nach dem Ideale Rubens oder nach dem der Angelica Kaufmann wählen sollte, so sehr kann er doch, als ein Mann von Geschmack, beyde gleich schön finden. Er sieht die Einheit des Begriffes, die beyde Künstler für Weiberschönheit festgesetzt haben, und findet die Darstellungen schön, weil sie diesem Begriffe entsprechen. 

Rubens sah die Fülle des üppigen Genusses, als den höchsten Zweck für Weiberschönheit an; und von der äusersten Fußspitze bis zur Brustwarze stellen seine Weiber diese Schönheit dem Auge des Beobachters dar. Angelica hingegen, selbst Weib, und daher die Würde ihres Geschlechts etwas höher setzend, als bloß die thierische Hälfte des Mannes zu seyn, Angelica sah die weichgeschaffene Seele des Weibes, dessen Geschmeidigkeit, dessen Stärke beym Vorsatze, dessen Schwäche in der Leidenschaft, als den vorzüglichen Charakter der Weiberschönheit an; und jede ihrer Figuren zeigt dem, nur mittelmäsig geübten Auge, diesen Charakter aufs deutlichste. Man eilt ungeduldig von Theil zu Theil des graciösen Körpers, bis zum Mund, bis zum Auge, und wünscht von jenem ein holdes Wort zu hören, in diesem einen Funken von Leidenschaft glühen zu sehen. 

Mit dem Verluste der Einheit des Begriffes – die ich auch die Geschmackseinheit nenne – fängt auch der gute Geschmack an, zu sinken, und er geht entweder gänzlich zu Grabe, oder es wird eine neue Geschmackseinheit erfunden werden müssen, oder endlich wird der alte Geschmack durch vorgefundene Bilder und Muster wieder aufs neue organisirt, aber nicht eher beseelt werden können, als bis man der alten Geschmackseinheit wieder auf die Spur gekommen ist. 

Daß dieß der Erfahrung gemäß sey, wird jeder einsehen, der nur im mindesten über das nachgedacht hat, was man den Verfall des Geschmacks nennt. Unsere Musik und unsere Tanzkunst, sind ganz was anders, als sie bey den Griechen gewesen. Ihre Geschmackseinheit in diesen beyden Künsten ist für uns ganz verloren gegangen, und es lag wohl eine Kluft von mehrern Jahrhunderten dazwischen, ehe es einer neuer Schöpferkraft gelang, beyde Künste wieder einiger Maasen zu beleben. 

In den übrigen bildenden Künsten arbeiten wir noch jetzt bloß nach dem Vorbilde der Alten, ohne sie so eigentlich recht zu verstehen; und der Künstler muß sich streng an die Begriffe der Mythologie binden, wenn er bey dem Inhalte mythologischer Arbeiten verständlich werden will. Es wäre vielleicht nicht schwer aus der Geschichte den Zeitpunkt zu bestimmen, wann die Geschmackseinheit in dieser oder jener Kunst verloren gegangen und warum sie verloren gegangen. 

Aber vorzüglich werde ich mich bestreben in Ansehung der Baukunst zu zeigen, was für eine Geschmackseinheit ihr überhaupt zum Grunde liege, warum der griechische Geschmack schon zu Konstantin des grosen Zeiten zu verschwinden angefangen, und der Gothe lieber nach arabischen als nach griechischen Mustern gebauet habe. 

Die Geschmackseinheit wird nun entweder an und für sich, oder symbolisch, oder bloß analog dargestellt. Die Tanzkunst, insofern sie etwas mehr bedeutet, als herumhüpfen in durcheinanderlaufenden Linien, insofern sie auch einen Inhalt hat, stellt diese Einheit an und für sich dar. Die Geschichte wird vor unsern Augen aufgeführt; jede Gruppe, jede Bwegung ist, oder soll seyn Ausdruck dessen, was die handelnden Personen in diesem Augenblicke fühlen: es sind Personen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedener Muttersprache, denen nur die allgemein verständliche Sprache der Natur, die Mimik, zu Gebote steht.

Der Mahler oder Bildhauer des Alterthums, der das kindische Betragen, die blinde Partheylichkeit, die fast nothwendige Unbeständigkeit, die schmerzhafte Freude, und den fröhlichen Schmerz der Liebenden als Einheit fasste, um darnach das Bild der Liebe zu personificiren, stellte alle diese Merkmahle symbolisch in Amor dar: ein Kind, mit einer Binde vor den Augen, Flügeln auf dem Rücken, mit goldnen aber spitzigen Pfeilen im Köcher. 

Hingegen kann die Musik die Geschmackseinheit nur analog darstellen. Wie der Gang der Leidenschaft in der Zeit nach und nach wahrgenommen wird, entweder stets feyerlich wie die Liebe des Spaniers, oder zudringlich und tändelnd, wie die des Franzosen, muß der Gang der Musik seyn, die diese Leidenschaft darstellen soll. Daher wird man aus der Musik, ohne Beyhilfe gesungener Worte, wohl wissen, ob sie Traurigkeit oder Freude bezeichnen, nie aber den Grund zu diesen Empfindungen. 

Sind diese Voraussetzungen gegründet, so schreite ich zu meinem Gegenstande, woraus dann noch erhellen wird, daß die Baukunst, eben so wie Mahler- und Bildhauerkunst, die Geschmackseinheit symbolisch darstelle.

„Wie die Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie“ sagt unser Herder; und das ist gewiß wahr. Denn bey allen Menschen hat Bauerey mit Gesetzgebung die stärkste Ähnlichkeit: durch beyde soll der Mensch Sicherheit und Schutz erhalten. Unter sein Dach rettet er sich vor Wind, Wetter und Kälte; unter das Obdach der Gesetze vor dem Sturme boshafter Menschen, vor ihren wetterwendischen Gesinnungen, und verwandelt ihre theilnehmungslose Kälte in thätige Wärme zum Heil und Frommen des Mitmenschen. Hier wie dort wird er in den Stand gesetzt, Herr dessen zu bleiben, was er rechtmäsig besitzt, und sein Eigenthum im Schooße seiner Familie ruhig genießen zu können. 

Eine Art von Gesetzgebung hatten alle Völker der Erde: gut oder schlecht, gleichviel, wenn sie nur für das Volk in seiner Lager passte; auch baute jeder sein Hüttchen so gut oder so schlecht er konnte, aber allemal gewiß so gut, als er es brauchte. Dort Schiedsrichter in jedem besondern Falle, ein Anführer im Kriege, und wenn es hoch kam, ein Wahrsager, der auch zugleich Moralist war; hier ein Paar Lanzen in die Erde gesteckt, mit Kleidern zum Dache, ein Stein zur Lagerstelle, und wenn es hoch kam, ein Graben um das Hauß zur Vorsicht und zur Grenzscheidung – dies war blos nützliche Gesetzgebung, nützliche Bauerey, ohne Kunst in beyden. 

Solange die Menschen nomadisch lebten, brauchte man wohl schwerlich etwas besseres in dem einen Falle konnte man schwerlich was schöneres denken in dem andern: hier wie dort sorgte man nicht für die künftige Generation, kaum für den künftigen Frühling. 

Sobald aber die Menschen anfiengen stät zu werden, und sich in ihre Gesetzgebung Kunst mischte, konnte sich auch ihre Bauerey in Baukunst verwandeln. Begeistert von der Schönheit der Gesetze, konnte es ihnen einfallen, ihre Empfindung für diese Schönheit symbolisch darzustellen; und sie führten ein schönes Gebäude auf. Der schöne Gesetzgeber Numa war auch in Rom der erste, der auf Schönheit der Gebäude sein Augenmerk richtete. 

Aber nur eben die Empfindung des Künstlichen in der Gesetzgebung, die der Mensch als schön erkennt, und die sich seinem Gemüthe einprägt, kann er auch in seinem Gebäude als schön abbilden. Die symbolische Darstellung als Wirkung, wird nicht über die Ursache, die sie aus der Gesetzgebung schöpfte, hinaus gehen; und so mußten denn Griechen und Gothen freylich ganz verschiedene Geschmackseinheiten in Betracht der Architektonischen Schönheit haben. 

Schon von Dracos Zeiten an, verwandte der Grieche seinen ganzen Kunstfleiß in der Gesetzgebung, auf die Haltbarkeit des Staatskörpers; jeder Theil mußte tragen, jeder Mittel werden, den Hauptzweck der Gesetzgebung, das Ganze zu erhalten, und jeder sollte nur seines Daseyns so weit froh werden, als es diesen Zweck verherrlicht. Dieß war die Schönheit in der Gesetzgebung, dieß die Geschmackseinheit in dem Griechischen Gebäude. Auf Fußgestellen ruhen Säulen, diese tragen Capitäle, und beyde tragen die Kuppel, das Obdach des Gebäudes, den Endzweck des Ganzen. 

Mit dem Verfall der griechischen Staaten, fieng die Geschmackseinheit der Gebäude an, undeutlich zu werden, wurde nur von sehr guten Augen noch zu Nero’s Zeiten bemerkt, und verschwand gänzlich aus dem Gesichte unter Constantin dem Grosen. Nun das System des griechischen Staatskörpers nur noch durch äussere Stützen zusammenhielt, Nero mehr durch Grillen und Launen, als mit Bedachtsamkeit und Hinsicht auf die Erhaltung des Ganzen herrschte, und endlich Constantin durch Verlegung der Residenz nach Byzanz, die erste Ursache zu jenem Unheil des doppelten Kaiserthums ward, nun konnte wohl auch schwerlich der Künstler die Schönheit der Regierungsform in sein Werk übertragen, und das Räthsel ist ziemlich gelößt, weßhalb sich auf dem von Constantin benannten Bogen so widersprechende Dinge, und in allen seinen Gebäuden Säulen von aller Ordnung, ohne die mindeste Auswahl vorfanden. So war seine Regierung, so mußten seine Kunstwerke seyn. Der schöne griechische Einklang hatte aufgehört zu tönen, und schreckliche Dissonanzen gellten in den Ohren der Künstler. 

Nun erschien der Gothe, der, zu Anfange des fünften Jahrhunderts, sich mit Macht von der römischen Oberherrschaft losreissen wollte, dessen ganzes Bestreben, dessen ganze Verbindung zu einem Körper auf Freyheit und Erweiterung gieng, und der daher keine andere Schönheit in der Regierungsform kannte, als die jenen Zweck beförderte. Die politische Verbindung zu diesem Endzwecke war der schönste Anblick für ihn, und auch seine Gebäude mußten diesen Geschmack an den Tag leben. Alles reißt sich, in den altgothischen Gebäuden, von dem Hauptstamm ab, nichts trägt, alles ist offen, alles, bis auf die Zierrathen, aus der Natur entlehnt, alles nach Eigenwillen verbunden, nichts soll dem Zwange unterliegen. 

Seine Freyheit mitten unter einengenden Schwierigkeiten durchzusetzen, kann durch kein Bild so schön symbolisch dargestellt werden, als durch die Tulpenblättrige Form, welche die Gothen ihren Bogen gaben, und die das Charakteristische der alten sowohl als neuen gothischen Bauart ist. Der Bogen ist oben nicht zusammengedrückt: er hat noch Spitze, noch Kraft durchzudringen und wartet nur gleichsam auf eine Gelegenheit auszubrechen, voneinander zu platzen, und seine, fast bis oben parallel laufenden Schenkel ins Unendliche auszubreiten. Wo nichts die Kraft des nach Freyheit strebenden Menschen einengt, da erhebt er sich so weit er kann, ohne Rücksicht auf die Frage: wie wird das halten? Er verläßt sich auf seine Kraft. Daher des Gothen hohe Thürme, die die Athmosphäre durchbohren, und fallen müßten, wenn die Materialien nicht so gut wären; daher keine Kupppel, keine Spiegelgewölber, keine Säulen, keine Capitäle – nichts trägt, nichts drückt, alles geht vorwärts. 

Welche Schönheit konnte der Gothe in dem griechischen Gebäude finden, da er diese Schönheit in seiner Gesetzgebung nicht vor Augen hatte? Nach seinem Willen hätte hier das Oberste von den Theilen zertrümmert werden sollen; und nach seinem Geschmacke brauchte es auch dort nicht mehr von ihnen so ängstlich getragen zu werden. Nur in dem arabischen Geschmacke fand er Bedeutung, nur von einem Volke, das über Gesetzgebung so ziemlich gleich mit ihm dachte, konnte er die Geschmackseinheit entlehnen. 

Ich lasse Goldmanns Muthmaßung dahingestellt seyn, daß die Corinthische Ordnung sich an den Tempeln, die Dorische aber an dem Pallaste Salomons gefunden habe. Eben so gleichgültig ist es, welche Ordnung zuerst erfunden worden. 

Allein, nach meiner Meynung, scheint Sturms Behauptung, daß es nur drey verschiedene Ordnungen überhaupt gebe, sehr richtig zu seyn. Denn in einem Staate, in dem das Ganze von den Theilen getragen wird, giebt es nur drey Stände: Bürger, Edler und Souverain. Der erste trägt, anspruchslos, um Stütze des Ganzen zu seyn, mit natürlicher Einfalt, dem einzigen Charakter, der seinem Stand geziemt; die männliche und weibliche Toscanische Ordnung. Der zweyte trägt auch seine Last: aber er sieht auch dabey auf seine eigne Verherrlichung. Die Dienste, die er dem Ganzen leistet, sollen in die Augen springen, und er trägt mit Anstand: die männliche und weibliche Ionische Ordnung. Endlich dient der Abglanz des Sourverains ihm jene Überlegenheit über schwache Geister zu geben, die dessen schlichten Nutzen nicht einzusehen vermögen; er muß höher an Körper seyn, wenn er von ihnen für höher am Verstande gehalten werden soll, muß ihnen ein Spiel, eine Augenweide zur Schau stellen. Der Pöbel gafft und staunt hierüber, indeß der Einsichtsvollere in dem Souverain, nur insofern er Staatsbürger ist, seine Größe bewundert: die männliche und weibliche Corinthische Ordnung. 

Diese drey Stände waren weder bey den Arabern, noch den Gothen so genau geschieden, als bey Griechen und Römern; und daher hat auch das gothische Gebäude höchstens Pfeiler, aber keine Säulen. 

Als nun zu Hugo Kapets Zeiten der Staat sich abermals zu organisiren anfieng, verstand man nicht mehr, was für eine Geschmackseinheit die Gothen bey ihren Gebäuden gehabt hatten, und fand nur Schwerfälligkeit, Überladung und wildes Spiel der Einbildungskraft darinn. Man bauete, ohne allen Begriff, neu gothisch, bloß symmetrisch, ohne Geschmackseinheit; bis man endlich um die Mitte des vierzehenten Jahrhunderts anfieng, die vorgefundenen Muster der griechischen Baukunst nachzuahmen, ohne ihre Geschmackseinheit zu verstehen.

 

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