Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Die Horen 7/1795

 

I. 

Die Idee der Gerechtigkeit als Princip einer Gesetzgebung betrachtet. 

Das höchste praktische Ziel der menschlichen Weißheit, das die Menschen in diesem Leben vermöge ihrer moralischen Natur zu erreichen hoffen können, ist, Ausbildung ihrer Kräfte ohne feindselige Kämpfe, und freyer Lebensgenuß ohne Verletzung der Gerechtigkeit. Die einzigen Mittel, die zu diesem Zweck führen können, sind Erziehung und Gesetzgebung. Die Vollendung dieser beyden Künste setzt daher allen menschlichen Bemühungen erst die Krone auf, und bevestigt das Reich der Weißheit auf immer. 

Das Bedürfniß trieb die Menschen zur Kultur dieser beyden Künste, und die ersten Spuren eines Versuchs in der Ausübung derselben, sind gleich alt mit der ersten Entwicklung der Menschen. Solange aber beyde nur Töchter des Bedürfnisses sind, solange können sie auch mit keiner größern Kraft und Weißheit ausgestattet seyn, als zur Stillung desselben erforderlich ist. Das Vermögen im Menschen, dem Bedürfniß durch seine Veranstaltung abzuhelfen, muß aber nothwendig vorhanden seyn, ehe er von den Umständen zur Entwicklung desselben aufgefordert werden kann, und jede Veränderung, jede Verbesserung, die nach und nach in der Erziehung und Gesetzgebung vorgenommen wurde, muß schon ihrer Möglichkeit nach in den sie bewirkenden Seelenkräften gelegen haben, ehe sie durch die Kultur zur Reife gelangte. Nur die Reflexion über die Äusserungen dieses Vermögens leitet ihn auf Principien, denen alle Verfügungen und Vorschriften unterworfen seyn müssen, um von ihm uneigennützig gebilligt werden zu können. Erst wenn Erziehung und Gesetzgebung in gewissen Graden schon wirklich in der Welt waren, kann er sich die Aufgabe machen, die Möglichkeit ihrer Wirkungen, und die Übereinstimmung mit seiner moralischen Natur einzusehen, kurz, eine Theorie beyder Künste zu versuchen. Bey diesem Versuch sogleich systematisch verfahren zu wollen, und von Grundsätzen auszugehen, die sich noch nicht durch den ganzen Zusammenhang der bisherigen Entwicklung der Menschen bestätigt haben, sondern vielmehr diese Entwicklung selbst bestimmen sollen, ist, (wenn es nicht eine bloße Übung der synthetisch verfahrenden Vernunft seyn soll, die ihre Resultate noch einer weitern Kritik unterwirft) ein verwegenes Unternehmen, das, wenn der Eifer für das System und die Eile es zu realisieren mit der Wichtigkeit seines Gegenstandes im Verhältniß steht, für den Menschen sehr verderbliche Folgen haben kann. Sicherer ist es an der Hand der Erfahrung, durch die Moralität orientiert, sich in der Reflexion über den Gang des menschlichen Geistes, insoferne er der großen Aufgabe der Erziehung und der Gesetzgebung für das Bedürfniß gewisser Zeiten, theils Genüge leistete, theils zu leisten glaubte, zu üben, und dadurch die Forderungen der Vernunft in ihrem Kampfe mit der Täuschung der Vorurtheile, den Begierden und dem despotischen Stolze genau und zuversichtlich kennen zu lernen. Die Moralität (nicht die von gelehrter Wissenschaft abhängt, sondern die im Menschen unverkennbar sich äussert) ist das einzige allgemein geltende Princip, durch das sich die Menschen über philosophische Gegenstände verständigen können. Sie ist das einzige Ziel, das wir nie bey unsern Untersuchungen aus den Augen lassen dürfen, ohne Gefahr zu laufen, uns in leere Spekulationen zu verlieren; und obgleich die Philosophen noch nicht über das Princip der Moral einig sind, so ist doch die Moralität das Einzige, wornach sie sich in der Untersuchung über ein Princip der Moral orientieren müssen. 

Unter die vorzüglichsten Denkmale des Alterthums, die die Fortschritte des menschlichen Geistes in der Gesetzgebung auf einem Theil des angenehmsten Weges seiner Kultur darstellen, gehört gewiß Platos Republik. Der Zweck derselben ist, die Möglichkeit zu zeigen, wie die Idee der Gerechtigkeit realisiert werden könne. In den beyden ersten Gesprächen sollte anschaulich gemacht werden, wie unbestimmt und schwankend die Begriffe von Gerechtigkeit selbst bey denkenden Menschen seyen, und wie viel Schwierigkeit es habe, etwas, das sich nicht auf die positiven Verfügungen des Staates gründet, über die Gerechtigkeit festzusetzen. In dem ersten Buche bringt Sokrates den Sophisten Thrasymachus, welcher behauptet, die Gerechtigkeit sey weiter nichts als der Nutzen des Mächtigen, nach der ihm gewöhnlichen Methode zum Schweigen, indem er ihn in Widerspruch mit sich selbst setzt. Man sieht schon aus der Seichtigkeit des Angriffs, daß die Widerlegung keinen grosen Aufwand von Scharfsinn erfordert haben kann. Sokrates scheint dieses selbst zu fühlen, indem er den Dialog mit folgender Anmerkung beschließt: „Mir ist es, sagt er, bey diesem Streit ergangen, wie dem wollüstigen Schlemmer, der an einer herrlich besetzten Tafel von jedem Leckerbissen kostet, aber darüber von keiner Speise ganz gesättigt wird.“ 

In dem zweyten Buche tritt Glaukon auf, und fordert Sokrates feyerlich auf, ihm zu sagen, was Gerechtigkeit sey. Es giebt, sagt Glaukon, dreyerley Arten des Guten. Eine Sache ist uns entweder wünschenswerth um ihrer selbst willen, wie die Vergnügungen der Sinne, oder sie ist es uns um ihrer selbst und zugleich auch um ihrer Folgen willen, wie die Gesundheit der Seele und des Körpers, oder sie ist uns nur angenehm um der Vortheile willen, die sie uns gewährt, von welcher Art alle Künste sind, welche wir des Gewinnstes wegen treiben. Nun fragt sichs, fuhr er fort, unter welche Art des Guten du die Gerechtigkeit setzest? Unter die vorzüglichste, antwortete Sokrates, nehmlich unter die Art des Guten, welches wir um seiner selbst und um der Folgen willen zugleich lieben. Hierüber denkt der grose Haufe ganz anders, versetzte Glaukon: dieser setzt die Gerechtigkeit unter deine Künste des Gewinnstes, welche man bloß des Nutzens wegen liebt, den sie uns gewähren. Nun läßt sich Glaukon in eine nähere Untersuchung der Gerechtigkeit ein, zeigt zuerst die Natur und den Ursprung derselben und sucht alsdann zu beweisen, daß alle Menschen der Gerechtigkeit bloß gezwungen folgen, und daß sie hierinn der Natur der Sache gemäß handeln, weil das Leben des Ungerechten weit besser und glücklicher ist, als das Leben des Gerechten. 

Anfangs, sagt er, vor Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft, wußte man nichts von Gerechtigkeit. Ein jeder that, was er wollte, wenn er die Macht dazu hatte. Da aber der Schmerz, Unrecht zu leiden, noch weit das Vergnügen überwiegt, das uns das Unrechtthun gewährt, so traten die Menschen zusammen, machten den Vertrag unter sich, einander nicht mehr Unrecht zu erweisen, und schrieben sich gewisse Gesetze und Verordnungen vor, deren Befolgung mit dem Namen: Gerechtigkeit bezeichnet wurde; so entstand die Gerechtigkeit, welche also schon ihrem Ursprunge nach das Unangenehme der Einschränkung mit sich führt. Denn die Gerechtigkeit ist nichts gutes für den, der sie beobachten muß, sondern für den, gegen welchen sie beobachtet wird; so wie hingegen die Ungerechtigkeit etwas Gutes für den ist, der sie begeht, und etwas Böses für den, wider welchen sie begangen wird. Daß aber die Menschen nur gezwungen der Gerechtigkeit folgen, zeigt er aus folgendem Beyspiel. Wenn, sagt er, beyde zugleich, der Gerechte und der Ungerechte, von Ungefähr den Ring des Gyges fänden, wodurch sie unsichtbar würden und daher ungestraft alles thun könnten, was ihnen nur beliebt, wie lange würde wohl der Gerechte seinen Grundsätzen treu bleiben? Würde er sich nicht bald auf die Seite des Ungerechten neigen, und am Ende auf einer Straße mit ihm wandeln? Der Ungerechte ist auch weit glücklicher, als der Gerechte. Um dieß zu beweisen, nimmt er zwey Personen an, von welchen der eine höchst ungerecht ist. Der eine als vollkommen in seiner Art weiß allen seinen Ungerechtigkeiten den Anstrich der größten Gerechtigkeit zu geben, da hingegen der andre als ein schlichter und einfältiger Mann in der Bahn der Gerechtigkeit mit festen Tritten wandelt, ohne sich um die Meinungen der Menschen zu bekümmern: und bey dem grosen Haufen eben dadurch, weil er der gerechteste ist, in den Verdacht kommt, als wär er der ungerechteste. Was geschieht nun? Der Ungerechte, weil man ihn für das Gegentheil hält, wird überall geschätzt und verehrt; man ist stolz darauf mit ihm in nähere Verbindung zu kommen, man verschwendet Geschenke und Ehrenstellen an ihn. Er ist der Abgott des Volks. Der wirklich Gerechte im Gegentheil wird gehasst und verfolgt. Gefängniß und Schmach erwarten ihn, und es ist ein Glück für ihn, wenn er unter so vielen Verfolgungen mit dem Leben davon kommt. Auf welcher Seite ist nun das Glück? Überdieß hat auch der Ungerechte bey den Reichthümern, die er sich zuzueignen gewußt hat, die herrlichste Gelegenheit, sich bey den Göttern durch prächtige Opfer und Geschenke beliebt zu machen, und er ist daher weit mehr ein Liebling der Götter, als der Gerechte, der den Göttern nichts geben kann. Jener ist also mit den Göttern und Menschen wohl daran, da dieser von beyden verachtet und gehasset wird. 

Adimantus, Bruder des Glaukons, welcher glaubte, daß jener noch nicht alles wider die Gerechtigkeit gesagt hatte, was sich wider sie vorbringen ließe, nimmt darauf das Wort: „Ich will, sagt er, wie du die Tadler der Gerechtigkeit vor uns hast sprechen lassen, nun auch diejenigen auftreten lassen, welche sie lobpreisen. Wenn der Vater dem Sohn oder der Lehrer dem Zögling die Tugend anpreißt, so zeigt er ihm von weitem Ehrenstellen und Belohnungen, welche den Gerechten erwarten. Nie loben sie ihm die Gerechtigkeit als Gerechtigkeit, sondern nur in Rücksicht des Vortheils, den sie uns verschaft. Aber alle diese Vortheile werden eigentlich dem Ungerechten zu Theil, der sein Handwerk recht versteht, und nicht dem Gerechten. Überdies sind alle die Strafen, womit uns die Poeten im Untereich bedrohen, bloß sinnlich und um nichts schlimmer als die Übel, denen der Gerecht hier in diesem Leben, durch seine Gerechtigkeit ausgesetzet ist. Und noch oben darein sagen uns die Poeten, diese Söhne der Götter, welche am beßten von der Natur derselben unterrichtet seyn müssen, daß die Götter sowohl bey unsern Lebzeiten, als nach unserm Tod, sich durch Opfer aussöhnen lassen. Wer also viel opfert, dem wird auch viel erlassen, wer aber nichts opfert, dem wird auch nichts erlassen. Auf welche Seite wird sich nun wohl der feurige Jüngling, wenn er dieß alles zusammenhält, hinneigen? Wird er nicht lieber mit Klugheit ungerecht seyn und im Überfluß und Reichthum leben, als gerecht in Armuth und Verachtung schmachten wollen? Man beweise uns, fährt Adimantus fort, daß die Gerechtigkeit an und für sich und nicht bloß in Rücksicht der Meinungen der Menschen etwas Gutes und Ungerechtigkeit schon an und für sich etwas Böses sey, und jeder, der das Gute liebt und das Böse haßt, wird von sich selbst über sich und seine Handlungen wachen, um an der Gerechtigkeit nicht treulos zu werden, ohne eines fremden Wächters nöthig zu haben. Wir fordern dich daher auf, Sokrates, uns diesen Beweiß zu führen, denn niemand ist dazu geschickter als du, der du dein ganzes Leben dergleichen moralischen Untersuchungen gewiedmet hast. 

Dieß alles ist nun bloß Vorbereitung zu der Republik, deren sich Sokrates, oder vielmehr Plato bedient, um seinen Begriff von der Gerechtigkeit auszuführen. Aber ohne noch die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des platonischen Begriffs förmlich zu untersuchen, glaube ich im voraus beweisen zu können, daß Platos Begriff nicht richtig seyn kann; denn geht man bis zur Entstehung des Begriffes der Gerechtigkeit unter den Menschen zurück und bemerkt die verschiedenen Stuffen seiner Entwicklung, so findet es sich, daß zu Platos Zeiten noch Ein oder mehrere Hauptmomente dieses Begriffes fehlten. 

Alle Fähigkeiten unserer Seele werden durch sinnliche Eindrücke geweckt, und die Gesetze unsers Denkens selbst werden uns erst durch Reflexionen über das Denken bekannt. Das Gemüth hat zwar an dieser Entwicklung schon von Anfange so viel Antheil als die Sinne, aber es wirkt dann uns unbewußt, seinen Gesetzen nach, und wir erwerben uns nur nach und nach die Freyheit in unsern Reflexionen, sie auf die Gesetze, nach welchen wir über Gegenstände reflektierten, selbst zu erstrecken. Dieser Fall findet nothwendig auch bey unsern moralischen Einsichten statt. Alles was durch den Menschen ist, ist auf zweyerley Art durch ihn; zuerst durch seine Natur und dann durch seine Freyheit. Jede Sache ist früher als ihr Begriff und jede Handlungsweise älter als ihre Regel. In dem Bestreben, das dem Menschen eigen ist, die Naturwirkungen durch Freyheit nachzuahmen, liegt der Grund seiner Entwicklung, die also immer von zwey Bedingungen abhängt, nehmlich: von den Originalen, die ihm die Natur, sowohl die physische, die der Stoff seiner Handlungen ist, als die intellectuelle in ihm, die diesen Stoff behandelt, aufstellt, und von dem Bestreben sie mit seinem freyen Willen, durch Kunst zu kopieren. Das erste ist in Rüksicht auf seine willkührliche Thätigkeit zufällig, und nur das zweyte hängt von ihm ab. Man hat bey der Erklärung der menschlichen Handlungen immer auf Natur und auf Freyheit zu sehen. Alles, was im gesetzlichen Zusammenhang stehet, der nicht mit freyem Willen von uns selbst gesetzt wurde, gehört zur Natur im weitesten Sinne, und die Moralität selbst, insoferne ihr Gesetz in der Form unserer Vernunft nothwendig gegründet ist, gehört so lange zur Natur, als diese Form nicht durch uns selbst, nicht bloß erkannt, sondern auch anerkannt ist. Die Ausbildung des Menschen ist also von einer Seite immer zufällig, und er kann weder von Gesetzen des Denkens, noch des Handelns etwas wissen, ehe er veranlaßt wird, sie auszuüben, und ehe er mit Freyheit über das reflektiert, was er, durch seine bloße Natur getrieben, in Ausübung brachte. Seine moralischen Einsichten hangen daher vom Zufall ab, und er kann in seinem Zeitalter in dieser Rüksicht wohl hervorragen, aber es nicht überspringen. Das Verdienst, das der Mensch bey seinen Handlungen hat, hängt nicht von seinen Einsichten, sondern von seiner Gesinnung ab, und ist an kein Zeitalter gebunden. Bey gleicher Gesinnung kann er sehr verscheiden, nach dem Maaß seiner Einsichten, handeln, ohne dadurch in dieser Rüksicht besser oder schlechter zu seyn. Nicht die Gesetze, die er erkennt, sondern die er anerkennt und freythätig für seine Handlungsweise festsetzt, bestimmen nächst der Beständigkeit, mit der er sie ausübt, seinen wahren moralischen Werth. Der Stoff, der dem Menschen zur Entwicklung seiner moralischen Einsichten aufgedrungen wird, ist von zweyerley Art; nehmlich er besteht aus dem gefühlten Bedürfniß nach erkannten Gesetzen zu handeln und aus dem Erfolg, den die Erfahrung giebt, wenn er nach gewissen von ihm bestimmten Regeln in der Wirklichkeit verfuhr. Das erste treibt ihn zur Spekulation, das zweyte berichtigt seine Spekulationen durch die Erfahrung. 

Die erste Stufe sowohl der moralischen Kultur als der Verstandesbildung fängt damit an, daß der Mensch sich gewöhnt etwas zu erwarten. In ersterer Rücksicht lernt er wünschen, und in zweyter vorhersehen. Auf was Art er zu dieser Gewohnheit etwas zu erwarten gelange, läßt sich schwerlich weiter erklären, und ich nehme sie als ein unbezweifeltes Faktum an. Der Wunsch ist der Zeit nach als die erste, und dem Werth nach als die geringste Entwicklung unserer Moralität anzusehen. Er beweißt schon eine moralische Anlage in uns, denn wenn er auch noch keine moralische Kraftäuserung zeigt, so ist er doch schon eine Anzeige, daß wir uns als einen möglichen letzten Zweck der Naturbegebenheiten zu denken anfangen. Die Vorhersehung ist der gröste Feind der Wünsche, und sie läßt sich als das Negative des Wunsches betrachten, denn sie hebt ihn auf. Solange der Mensch aber noch gar nichts erwartet, solange kann er auch nicht wünschen. Der Antagonism zwischen Wünschen und Vorhersehen, ist der Ursprung aller intellectuellen Ausbildung des Menschen. Der zweyte Schritt besteht daher darinnen, zu suchen, seine Wünsche mit den Vorhersehungen in Einigkeit zu bringen, und sie durch diese zu beschränken. Von dieser zweyten Epoche an wird erst eine Geschichte der Menschheit möglich, da in ersterer der Mensch als moralisches Wesen noch gleichsam als Embryon zu betrachten ist, in dem die Triebe noch ganz ungestört durch seine freye Thätigkeit wirken. In der zweyten Epoche fängt er an, das Mißverhältniß zu bemerken, das sich zwischen der Erwartung und dem Genuß bey vielen seiner Wünsche findet, und dadurch wird er auch auf den unangenehmen Zustand aufmerksam, der daraus entsteht, daß er ungewiß ist, wie ihm seine Mitmenschen begegnen werden. Daraus entwickeln sich die ersten Keime der Klugheitslehre, und die Bereitwilligkeit sich einer Gesetzgebung zu unterwerfen. Bey zunehmender Kultur mußte sich aber ein Widerspruch entdecken, der sich öfters zwischen seinen Klugheitslehren, die sich nur auf die Beförderung seines angenehmen Zustandes erstreckten, und dem Betragen fand, das er beobachten mußte, wenn eine allgemeine Gesetzgebung möglich seyn sollte. Durch die Ideen einer Gesetzgebung mußte er nehmlich sein Betragen nach einer Regel bestimmen, die der andere auch beobachtete, und wodurch es möglich wurde, daß die Menschen auf die Art ihres wechselseitigen Betragens gegeneinander rechnen konnten. Diese Regel konnte aber sehr oft für den einen lästig seyn; ohne daß er einsah, daß ihm die Klugheit verböte, sie zu übertreten. Klugheit und Gesetzgebung kamen nun in Collision, und es entstund die Frage, durch was die Lehren der Klugheit beschränkt werden müßten, um nicht mit der Möglichkeit einer Gesetzgebung im Widerspruch zu stehen. Dieß wurde mit dem Wort Gerechtigkeit bezeichnet, das ursprünglich, dem Wortsinne nach, diejenige Beschaffenheit eines Menschen bedeutet, wodurch andere auf seine Handlungsweise gegen sie sicher rechnen können. Das Princip der Gerechtigkeit mußte daher immer dem Princip der Gesetzgebung ähnlich seyn, und das Prädicat gerecht bezog sich auf den Begriff, den man von dem, was gesetzmäßig sey, hatte. Recht war, was überhaupt; gerecht, was ohne Rücksicht auf möglichen Zwang dem Gesetz gemäß geschah. Die Gesetzgebung konnte sich ursprünglich nicht auf das Recht, sondern dieses mußte sich auf die Gesetzgebung gründen. Das Recht kann nie den Gesetzen vorangehen, sondern hängt entweder von gegebenen oder von a priori erkannten Gesetzen ab, und ist also jederzeit ein Resultat der Gesetze, es mag positiv oder natürlich heissen. Die erste Entstehung hat also das Recht, so wie die Gesetzgebung, dem Bedürfniß zu danken, das der Mensch hat, auf das Betragen anderer gegen ihn zu rechnen. Die Klugheit befiehlt dem Menschen nur nach seinem größtmöglichsten Vortheil zu streben, und also nur in so ferne Recht zu thun, als es nothwendig ist, um von den andern auch Recht fordern zu können. Dazu ist nun nicht nöthig, daß der Mensch gerecht sey, sondern nur, daß er es scheine. Aus dem Gesichtspunkt des Vortheils betrachtet, hat Thrasymachus völlig recht zu behaupten: die Gerechtigkeit sey nur ein Gut für den, gegen den sie ausgeübt wird, aber ein Nachtheil für den, der sie ausübt. Daß ein Staat im Ganzen um so glüklicher sey, je gerechter alle seine Mitbürger gegeneinander wären, mußte sehr früh von den Menschen erkannt werden, aber von dieser theoretischen Erkenntniß bis zur Einsicht der Verbindlichkeit, meinen einzelnen klar eingesehenen Vortheil der Idee eines Ganzen, wie der Staat ist, nachzusetzen, ist ein sehr grosser Sprung. So leicht die objectiven Vortheile der Gerechtigkeit einzusehen waren, so schwer waren ihre subjectiven Nachtheile zu widerlegen. Die Nothwendigkeit des Scheins der Gerechtigkeit wurde von allen zugestanden, aber über die Nothwendigkeit, es wirklich zu seyn, mussten sich die Meinungen theilen. Diejenigen, welche die Gleichförmigkeit der Handlungsweise und die Übereinstimmung mit sich selbst, als das grösere Gut empfanden, waren für die Sache, diejenigen, welche das größere Gut in die einzelnen Genüsse und Vortheile setzten, waren für den Schein. Eigentliche Sittlichkeit zeigte sich bey den Menschen zwar schon in jeder Epoche als Thatsache, und sie konnten, ihrer Natur nach, ihr die Achtung nicht verweigern; aber zu sehr noch mit dem, was ihnen ein glükliches oder lästiges Leben bereitete, beschäftigt, hatten sie noch nicht über das moralisch Gute an sich reflectiert. 

Um ein Gesetzbuch zu verfassen, war diese Reflexion auch nicht nöthig, denn dieß braucht nur Rechte zu bestimmen. Um Rechte zu bestimmen, lassen sich zwey Wege denken: der eine gründet ein völlig positives, und der zweyte ein ursprünglich natürliches Recht, das erst durch die Gesetze positiv wird. Die ursprüngliche Idee eines Rechts ist, eine nach Regeln bestimmte und dadurch vorauszusehende Handlungsweise, insoferne sie auf das wechselseitige Betragen der Menschen gegeneinander Bezug hat. Dieser Zweck kann auf den eben gedachten zwey verschiedenen Wegen erreicht werden, nehmlich: man kann festsetzen, das Betragen, das sich Menschen einmal von einander gefallen liessen, müssen sie sich immer gefallen lassen, und dieß erzeugt das positive Recht im engesten Sinne des Worts; oder man setzt solche Regeln des Betragens fest, wodurch alle, wenn sie befolgt werden, gleiche Vortheile geniessen, und dieß giebt ein natürliches Recht, weil dabey die Menschen, als völlig im Stande der Natur, ohne daß noch einer vor dem andern etwas voraus oder ihn zu irgend einer Erwartung berechtigt hätte, vorausgesetzt werden. Die letztern Rechte werden durch die Gesetzgebung nur der Form nach positiv, an sich sind sie rational. Da aber die Menschen, ehe sie sich zur Idee einer allgemeinen Gesetzgebung erheben konnten, schon durch das Bedürfniß, mit einander zu leben, gezwungen wurden, die erste Art von Recht zu ehren, so war nie eine reine Gesetzgebung möglich, sondern jede Gesetzgebung in der Wirklichkeit kann nicht sowohl als ursprünglich Recht erzeugend, sondern vielmehr als die, durch Zufall entstandenen und für heilig gehaltenen, Rechte reinigend, betrachtet werden. Jede Gesetzgebung in der wirklichen Welt ist daher nicht sowohl constituirend, als vielmehr reformirend, indem sie die Mißbräuche abschafft, und dadurch die Menschen wieder der ursprünglichen Gleichheit näher bringt. 

Dieser Widerspruch zwischen der Gesetzgebung im Ideal, von der erst alle Rechte anheben, und der Gesetzgebung in der Wirklichkeit, die schon Rechte antrift, trennte bald die Philosophen von den Staatsmännern, und führte auf die uralte, aber, wie ich dafür halte, sehr unrichtige Behauptung: daß etwas in der Speculation vortreflich und in der Praxis sehr schlecht seyn könne. Was dieser Behauptung in dem gegenwärtigen Fall einen Schein von Richtigkeit gab, ist: daß das, was in der Speculation als die ursprüngliche Quelle aller Rechte erkannt wird, in der Praxis blos das Ziel seyn kann, dem man sich nähert. Unternimmt man daher die Grundsätze der Speculation in der Wirklichkeit unmittelbar in Ausübung zu bringen, so muß man nothwendig auf unübersteigliche Hindernisse stossen, weil man handelt als wäre der Zustand wirklich vorhanden, den die Speculation voraussetzte, da doch dieser Zustand erst hervorgebracht werden muß. In der Idee setzt die Gesetzgebung völlige Gleichheit der Menschen in Rücksicht auf die Gültigkeit der aus ihren Kräften und Bedürfnissen entspringenden Ansprüche voraus, und sucht diese Gleichheit für immer zu bewahren; in der Wirklichkeit trift der Gesetzgeber auf eine auffallende Ungleichheit in der Schätzung der Gültigkeit der Ansprüche, die die Menschen im Verhältniß ihrer Kräfte und Bedürfnisse machen können, und muß jene Gleichheit, ehe er sie bewahren kann, erst zu bewirken suchen. 

Aus diesem Unterschied der Gesetzgebung in der Speculation und in der Praxis entsteht nun ein doppelter Gesichtspunkt der Gerechtigkeit: sie kann nehmlich als ein Betragen betrachtet werden, das sich ohne Rücksicht auf möglichen ausern Zwang den Regeln unterwirft, die für Gesetze gelten; und als ein ähnliches Betragen, das sich nach den Regeln richtet, die durch ein Ideal der Gesetzgebung für die menschlichen Handlungen bestimmt werden. Dieß erzeugte den Unterschied zwischen dem Betragen des gemeinen Bürgers und des Weisen. Die Nothwendigkeit mit andern Menschen umzugehen, zwang die Philosophen, sich im gemeinen Leben nach der gewöhnlichen Meinung zu richten; die Richtung ihrer Speculation aber leitete sie darauf, die gewöhnilche Meinung als Richtschnur dessen, was an sich für wahrhaft gut gehalten werden sollte, zu verwerfen, und so wurde die Speculation gänzlich von der Praxis getrennt. Durch die Trennung sank sie zur Sophitisk herab, und machte gleich andern unterhaltenden Künsten fast gar nichts als einen Zeitvertreib aus. 

So fand sie Sokrates. Ihm entgieng der Widerspruch nicht, in dem sich dadurch die meisten Menschen mit sich selbst, über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit befanden, und er suchte ihn, soviel an ihm lag, zu heben. Das auffallendste war, daß die Menschen zu wissen glaubten, was Gerechtigkeit, Schönheit und Tugend u. s. w. an sich seyen, und doch im praktischen ganz anders urtheilten und handelten. Um diesen Widerspruch zu zeigen, und auf Einheit im Menschen zu dringen ohne sich doch in seinem eigenen Betragen eines ähnlichen Widerspruchs schuldig zu machen, mußten zwey Klippen von ihm vermieden werden. Er mußte das, was im gemeinen Leben für Recht galt, und es doch nicht nach der Vernunft war, in seiner Blöße darstellen, und sich doch im Umgange mit Menschen darnach bequemen können. Er mußte die Wahrheit besitzen, und durch sie doch nicht genöthigt werden, sich von den andern Menschen abzusondern. Der Mittelweg, den Sokrates hier einschlug, war eine vorgegebene Unwissenheit über diese Gegenstände; dadurch wich er dem Vorwurf aus: wenn du das, was wir glauben, für wahr hältst, warum suchst du weitere Erkenntniß, und wenn du bessre Erkenntnisse besitzest, warum lebst du nach unserer Weise? Er konnte mit Hülfe seiner vorgegebenen Unwissenheit jedem, der ihn belehren wollte, zeigen, daß er im Widerspruch mit sich selbst sey, also auch nichts wisse. Die Unwissenheit des Sokrates erkläre ich mir so. Ich sehe ein, daß ich in Rücksicht auf die Resultate meiner Speculation, und die Vorschriften, die ich befolgen muß, um unter Menschen leben zu können, in Widerspruch mit mir selbst bin; da ich nun das eine nicht befolgen, und das andere nicht für recht erkennen kann, so muß ich, weil es unmöglich ist, daß der Mensch durch Nothwendigkeit zu etwas gezwungen seyn kann, von dem seiner Einsicht nach das Gegentheil nothwendig seyn sollte, mich in dieser Einsicht irren, und also bin ich unwissend. Ob dieß wirklich sein Fall war, oder ob er es nur, um andere belehren zu können vorgab, lasse ich für jetzt dahin gestellt seyn. Aus dieser Quelle floss aber nothwendig die Art, auf welche Plato den Sokrates seine Meinung über Gerechtigkeit vortragen läßt. Er mußte ihn eine ganz eigene Republik aufsstellen lassen, damit er nicht, nach seiner eigenen Methode, welche darinn bestand, die philosophischen Definitionen der Menschen nach den Urtheilen, die eben diese Menschen in dem gemeinen Leben fällen, zu prüfen, widerlegt werden könnte. 

Der Gesichtspunkt, aus dem aber Sokrates und nach ihm Plato die Gerechtigkeit betrachteten, konnte kein anderer seyn, als der des Bedürfnisses der Gerechtigkeit und der daraus gebildeten Behauptung, daß sie ein Gut sey. Kein Staat kann ohne Gerechtigkeit bestehen, war eine Einsicht, die die Erfahrung den Menschen aufgedrungen hatte; aber weiter konnte ihn bloße Erfahrung auch nicht bringen. Die Unentbehrlichkeit der bürgerlichen Verfassung hatte er gleichfalls eingesehen, und daraus bildete sich für die Spekulation die Aufgabe: ob die Gerechtigkeit ein wahres Gut oder ein nothwendiges Übel für den Menschen sey, dem er sich, um anderer ihm unentbehrlicher Güter willen, unterwerfen mußte? Die bloß für die Klugheit kultivirte Vernunft entschied für das letzte, seine moralische Natur für das erste. Um beyde Aussprüche zu vereinigen, mußte der letztere Ausspruch entweder als Aberglaube verworfen, oder der erste ihm aufgeopfert, oder es mußte gezeigt werden, daß beyde einander nur scheinbar widersprechen. Die Entstehung der Idee von Gerechtigkeit hatte der Mensch, wie ich gezeigt habe, dem Bedürfniß zu danken, das ihm diselbe als zu seiner Glückseligkeit nothwendig darstellte. Sie machte also einen Bestandtheil seiner Idee von Glückseligkeit aus. Er konnte daher, zumal da das moralische Gefühl laut für sie sprach, sie nicht für eine Täuschung und nicht nothwendiges Übel erklären, aber eben so wenig, da sie aus der Klugheit entsprang, diese ihr unterordnen. Er mußte, wenn er nicht einseitig zu Werke gehen wollte, nothwendig versuchen, Gerechtigkeit und Klugheit in Harmonie zu bringen und die Gerechtigkeit als einen Bestandtheil des höchsten Gutes darzustellen. Als höchstes Gut kann sie aber nur insoferne gut seyn, als sie erreicht wird. Alles, was dazu gehört sie zu erlangen, ist nur ein Mittel zu einem Gut, aber eben deswegen nicht selbst ein Gut, und dadurch wird die Gerechtigkeit zu etwas, das keine Eigenschaft der einzelnen Handlungen der Menschen, sondern der durchgängigen Einhelligkeit aller zu ihrer Realisirung erforderlichen Handlungen ist. Dieß ist ein neuer Grund, warum er seine Idee von der Gerechtigkeit nur in dem Ideal einer Republik darstellen konnte. Dadurch wurde aber auch der Gesichtspunkt auf das gerichtet, was die Gerechtigkeit bewirkt, und davon abgelenkt, in welcher Gesinnung sie eigentlich besteht, oder woraus sie hervorgeht. Auch wurde die Gerechtigkeit nur von ihrer thätigen Seite betrachtet, insoferne sie wirklich das Gesetzmäßige einem jeden ertheilt (Justitia distributiva) und in soferne sie wechselseitig für die Forderungen, die die Menschen aneinander machen und für die Dienste, die sie einander leisten, das rechte Maaß bestimmt (Justitia commutativa) fast ganz übersehen.

Um sich bey dem Begriff der Gerechtigkeit nicht zu verwirren, muß man die Gerechtigkeit in der Gesinnung und die Gerechtigkeit, in soferne sie sich in Handlungen zeigt, unterscheiden. In der Erfahrung wird die Gerechtigkeit eines Menschen aus seinen Handlungen erkannt, in der Speculation heißt die Handlung gerecht, weil sie aus der gerechten Gesinnung entspringt. Die gerechte Gesinnung läßt sich aber wieder auf zweyerley Art denken, nehmlich: als der Vorsatz alles das zu thun, was für recht unter den Menschen, unter welchen man lebt, gilt, und als der Vorsatz alles das zu thun, was an sich recht ist. In erster Rücksicht ist die Gerechtigkeit ein aus der Erfahrung abstrahierter Begriff, im zweyten eine Idee. Plato suchte die Idee der Gerechtigkeit, aber da er sie nicht in dem, was sie im Menschen ist, sondern in dem, was sie für den Menschen ist, aufsuchte, so mußte er anstatt der Idee der Gerechtigkeit ein Ideal eines gerecht handelnden Staates aufstellen, das aber, weil die Idee noch nicht richtig gefaßt war, auch nicht das beste Ideal seyn konnte. 

Um sich von der Unvollkommenheit dieser Betrachtungsart der Gerechtigkeit zu überzeugen, war die Erfahrung nothwendig, daß die Menschen nie das Ideal der Gerechtigkeit als ein Produkt der politischen Kunst darstellen werden, sondern daß sie einzig durch die freye Befolgung des Sittengesetzes durch jeden einzelnen Menschen realisirt werden könne, und daß sie also nur durch einen ethischen Staat oder durch eine Kirche auf der Welt möglich ist. Die Politik kann nur eine Analogie der Gerechtigkeit bewirken, die den Gerechten sichert, durch seine Gerechtigkeit in Rücksicht auf zeitliche Vortheile nicht ganz verlohren zu gehen. Der Mensch, der gerecht ist, weil es gut ist, gerecht zu seyn, muß mit eigensinnigem Entschluß handeln, denn er kann unmöglich sich davon überzeugen, daß er sich nicht sehr oft andern Menschen dadurch aufopfert; nur wenn er überzeugt ist, daß er schlechthin gerecht seyn soll, kann er mit wahrer Seelenruhe gerecht handeln. Diese innere Verbindlichkeit, oder die Pflicht gerecht zu seyn, lehrte aber am ersten Christus. 

Wenn die Frage nicht davon ist, was für gerecht gilt, sondern was dafür gelten soll, so muß die Idee der Gerechtigkeit der Bestimmung, welche Handlungen gerecht sind, vorausgehen. Die Gerechtigkeit muß auch nicht in einer Menge von Handlungen gesucht werden, sondern sie muß einer jeden Handlung ihren ganzen Charakter geben können; denn sonst wäre gar keine Gerechtigkeit möglich, weil sie in einer vollendeten Reihe von Handlungen bestehen müßte, und also in keiner gegebenen Zeit gefunden werden könnte. Sie ist also nicht in dem, was die Handlungen hervorbringen, in der Materie derselben, sondern einzig in der Art der Handlung, in der Form derselben, zu finden. In Rücksicht auf die Gerechtigkeit einer Handlung muß die Handlung immer durch ein und das nehmliche gerecht seyn. Soll die Gerechtigkeit von der Sittlichkeit überhaupt verschieden seyn, und dieß ist sie nach allen Bedeutungen, die noch diesem Wort gegeben wurden, und selbst nach er ursprünglichen einfachen Bedeutung des Worts Recht, so muß sie eine besondere Bestimmung einer sittlichen Handlung seyn. Die Worterläuterung ist: Gerechtigkeit ist diejenige lebendige Gesinnung, wodurch wir einem jeden sein Recht angedeihen lassen, ohne daß wir auf einen möglichen Zwang dabei Rücksicht nehmen. 

Diese Erklärung verträgt sich sowohl mit dem Verstandesbegriff (conceptus), als mit dem Vernunftbegriff (der Idee) der Gerechtigkeit, denn sie ist von der Art unabhängig, nach der wir uns das Recht eines jeden bestimmt denken, ob durch eine wirkliche oder durch das Ideal einer Gesetzgebung. Gerechtigkeit als Idee ist also die uneigennützige lebendige Gesinnung, einem jeden das Recht angedeihen zu lassen, das ihm durch das reine Ideal der Gesetzgebung zukommt. Das Ideal einer Gesetzgebung besteht aber darinn, daß einem jeden Gerechtigkeit widerfährt, und diese Erklärung führt uns also in einen Zirkel. Sie zeigt uns aber doch, worauf es bey der Bestimmung der Idee der Gerechtigkeit ankommt, nehmlich: sie muß das Princip einer uneigennützigen Gesetzgebung seyn können, und wir haben dadurch wenigstens ein negatives Kennzeichen derselben gefunden. Von welcher Handlungsweise sich zeigen läßt, daß sie sich nicht mit einer uneigennützigen Gesetzgebung verträgt, die kann nicht gerecht seyn. Uneigennützig ist eine Gesetzgebung, wenn der Gesetzgeber durch keinen äusern Vortheil sich in seiner Wahl bestimmen könnte, welchen Rang er selbst in seiner eigenen Gesetzgebung haben wollte. Einen positiven Charakter der Gerechtigkeit haben wir aber oben schon darinn gefunden, daß jede Handlung durch ein und das nehmliche gerecht seyn muß; die Form der Handlungen muß also immer die nehmliche seyn. Die Form der Handlung besteht in der Maxime, nach der sie geschieht. Diese Maxime muß also um ihrer selbst willen befolgt werden, wenn die Handlung gerecht seyn soll, denn wäre das, was die Handlung bewirkt, der Beweggrund, so wäre jede Handlung durch etwas anders gerecht. Auch die Maximen können nicht verschieden seyn, denn wenn sie nicht unter einer einzigen stünden, von der sie nur besondere Anwendungen seyn dürfen, so würde sich nicht durch sie selbst, sondern nur aus dem Erfolg bestimmen lassen, ob sie gerecht wären. Die Gerechtigkeit muß also bey jeder Handlung die nehmliche Maxime befolgen, und die Maxime muß zu einer uneigennützigen Gesetzgebung tauglich seyn. Diese Maxime muß ausser dem Kennzeichen der Moralität noch die nähere Bestimmung haben, daß sie ein Recht auf der andern Seite, nicht bloß eine Verbindlichkeit auf der ihrigen anerkennt. Daraus entsteht folgende Bestimmung der Idee der Gerechtigkeit: sie ist die lebendige Gesinnung alle Handlungen einer solchen Maxime unterzuordnen, die zur Begründung eines Rechts in einer uneigennützigen Gesetzgebung tauglich ist. Ein Recht kann in einer solchen Gesetzgebung aber nur das werden, was schlechthin als Pflicht von den andern gefordert werden kann, und dazu wird erfordert, daß keine andre Kenntniß nöthig sey, um über die Verpflichtung des andern zu urtheilen, als die ich mir erwerben kann, ohne an seiner Stelle zu seyn. Daraus ergiebt sich nun der Charakter der Gerechtigkeit, in soferne sie von der Sittlichkeit überhaupt unterschieden ist, sie ist die Ausübung aller der Pflichten, die objectiv erkannt werden können. Die Gerechtigkeit ist von Sittlichkeit überhaupt daher nur in Rücksicht auf menschliche Erkenntniß verschieden, in Rücksicht auf eine göttliche Erkenntniß oder Allwissenheit, sind alle Pflichten als zur Gerechtigkeit gehörig anzusehen. Da man das Gute, was der Mensch ausübt, ohne daß man es nach den Vorschriften der blossen Gerechtigkeit von ihm fordern kann, Verdienst nennt, so findet in Beziehung auf einen allwissenden Richter kein Verdienst statt. 

Der Unterschied zwischen dem Gang der Untersuchungen, den Kant bey moralischen Gegenständen einschlägt, und dem, welchen Plato befolgt, wird nunmehr, wie ich glaube, einleuchtend seyn. Auf dem Weg der Deutlichkeit führen uns Plato und alle ältere Philosophen nur zur Klugheit und zum Begriff der Gerechtigkeit; die Moralität lehren sie nur, durch ihr moralisches Gefühl geleitet, und der Idee der Gerechtigkeit nähern sie sich nur, insoferne sie nicht das Glück einzelner Menschen, sondern einer gesellschaftlichen Verbindung von Menschen zu begründen suchen. In diesem Siege der moralischen Natur des Menschen über seine theoretischen Kenntnisse, liegt aber auch der Reitz, den die Schriften der alten Classiker vor Kant voraus haben. So wie die Mittagssonne zu unsern Geschäften am besten leuchtet, und uns auf allen Wegen die gröste Sicherheit gewährt, aber selbst kein angenehmer Gegenstand für unser Auge ist; die Morgenröthe aber uns das entzückendste Vergnügen gewährt, ohne soviel Nutzen zu stiften; eben so ist auch Kants Philosophie eine sichere Leiterinn in den wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit, ermüdet aber, an sich betrachtet, unsern Geist sehr bald, da hingegen die Philosophie der alten Classiker bey diesen wichtigen Gegenständen uns bloß einen dunkeln Schimmer, dafür aber um so mehr Unterhaltung für unsern Geist und die süsse Hoffnung der gänzlichen Erleuchtung verschaft. Kants Philosophie muß solange verkannt, ja sogar verschmähet werden, bis der Wahn verschwindet, daß die Philosophie selbst eine Beschäftigung für uns, und nicht blosse Gesetzgebung für unsere Handlungen seyn müsse. 

Die Gerechtigkeit als Princip der Gesetzgebung fordert nach der gegebenen Erklärung nur objectiv zu erkennende Pflichten und erkennt die ihnen entsprechenden Rechte an. Sie giebt als Gerechtigkeit nicht was gut ist, daß es jemand habe, sondern nur was er fordern kann. Die Folgen, die es für die Gesetzgebung hat, wenn die Gerechtigkeit nicht bloß als formale Bestimmung der Handlungen, sondern als ein Gut, das nur durch die Übereinstimmung vieler Menschen erreicht werden kann, betrachtet wird, deute ich jetzt nur ganz kurz an, da sie sich sehr leicht aus den vorhergehenden Betrachtungen ergeben. 1) Wenn durch die Gerechtigkeit einem jeden gegeben werden soll, was ihm gehört, und darunter nicht bloß das verstanden wird, was man ihm nach einem positiven Recht schuldig ist, sondern auch was er zu seiner größtmöglichsten Ausbildung braucht, so setzt sie eine Kenntniß voraus, deren kein Mensch fähig ist, und eine Gewalt, die beständig nach individuellen Umstanden handeln müßte, und sich also mit keiner universellen Gesetzgebung vertrüge. 2) Eine solche Gesetzgebung würde gegen den einzelnen Menschen einen unnöthigen Zwang ausüben, indem sie sich zum Zweck setzte, ihn wirklich glücklich zu machen, welches widersprechend ist; weil der Mensch sich nur durch Übereinstimmung seiner äusern Lage mit seinen Wünschen glücklich fühlt. Der Staat als gesetzgebend hat nur dafür zu sorgen, die äusern, in der Macht des Menschen stehenden, Hindernisse hinwegzuschaffen, damit jedermann nach seinem Willen glücklich werden könne. 3) Dadurch würde der Gesetzgebung die Vorsorge für alle Bedürfnisse des Bürgers auferlegt werden, welches wohl ein Gegenstand des Staats überhaupt, aber nicht der Gesetzgebung seyn kann. 4) Es läßt sich aus diesem Gesichtspunkt wohl darstellen, was der Staat zum Wohl seiner Bürger thun kann, wenn er sie nicht dadurch an ihren Rechten kränkt; aber nicht, was er von ihnen als eine Schuldigkeit fordern soll. 5) Platos Republik kann also kein Ideal der besten Gesetzgebung, sondern nur eine Beschreibung eines glücklichen Staats seyn, der es aber doch nur unter der Bedingung ist, daß die Wünsche der Bürger, mit dem, was ihnen die Regierung ertheilt, von Jugend auf in Harmonie gebracht wurden.

Warum er gerade das Bild einer Republik gewählt habe, um den objectiven Werth der Gerechtigkeit zu erweisen, darüber rechtfertigt sich Plato durch folgendes Gleichniß. Wenn man, sagt Sokrates, einem, der kein gar scharfes Gesicht hat, aufgäbe, eine kleine Schrift von weitem zu lesen, und dieser nun die nehmliche Schrift, nur vergrössert und auf einem grösseren Raum geschrieben fände, so würde ihm dieß gewiss eine willkommene Entdeckung seyn. Diesem Beyspiel wollen wir folgen. Ein ganzer Staat ist weit grösser als ein einzelner Mensch; nothwendig muß sich also in demselben auch die Gerechtigkeit mehr im Grossen und in weit hervorstechenderen Formen zeigen, und wir werden sie von da aus im Kleinen und Einzelnen desto leichter beurtheilen können. 

Diese Vorstellung ist dem Begriff ganz gemäß, welchen sich Plato von der Gerechtigkeit bildet. Um diese als ein Gut darzustellen, mußte er ihre Unentbehrlichkeit zu demjenigen zeigen, was die Menschen am meisten schätzen, und dieß ist nichts anders als gesellschaftlicher, möglichst freyer Genuß im Verhältniß des ganzen Umfangs ihrer sowohl sinnlichen als geistigen Bedürfnisse. Wenn einmal nach Urtheil und Recht in der Welt gerichtet wird, so scheint es freylich, als wenn es der Vortheil der Menschen wäre, das Recht selbst zum Dienste ihres Eigennutzes zu gebrauchen, aber wenn noch kein Recht vorausgesetzt wird, so ist es klar, daß der Mensch nicht einmal mit der geringsten Sicherheit auf eine Befriedigung seiner eigennützigen Begierden rechnen könne. So zweydeutig der Nutzen der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen ist, so offenbar zeigt er sich in einem ganzen Staat. Es wird dadurch erwiesen, daß niemand die Vortheile eines Staats wollen könne, ohne das einzige dazu führende Mittel, die Gerechtigkeit zu wollen, und daß er also, wenn er diese verletzt, zugleich auch die Gesetze der Vernunft verletzt. Der Nutzen der Gerechtigkeit ist dadurch als objectiv gültig erwiesen, und die Vortheile, welche die Übertretung ihrer Vorschriften verspricht, sind in ihrer Blösse als subjectiver Schein dargestellt; wenn nun gleich daraus noch keine Verbindlichkeit erhellt, dem objectiv Nützlichen mehr nachzustreben, als dem subjectiven, so ist doch gezeigt, daß man, sobald man in bürgerliche Gesellschaft tritt, nicht zugleich ungerecht und rein vernünftig handeln kann. Alles, was man für die Gerechtigkeit als ein Gut sagen kann, ist daher durch Plato erschöpft, und es läßt sich nicht bessers zur Empfehlung der Gerechtigkeit sagen, als er gesagt hat. Allein nun bleibt noch übrig zu untersuchen, was die Gerechtigkeit an sich ohne Rücksicht auf ihren Nutzen in der Gesellschaft sey, und ob sie um der Gesellschaft willen, oder die Gesellschaft um ihrentwillen da sey. Daß sich dieß durch Platos Methode nicht finden lasse, habe ich zu zeigen gesucht, so wie auch, daß sich keine bürgerliche Gesellschaft als eine Vereinigung der Menschen die Gerechtigkeit auszuüben, in der Wirklichkeit denken lasse, sondern daß sie nur die einzig mögliche Verbindung der Menschen ist, in welche die Gerechtigkeit eingeführt werden kann. Die Speculation abstrahirt daher von aller wirklichen Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaften, und stellt das Ideal auf, das sie erreichen müssen, wenn sie der Moralität völlig Genüge leisten sollen. In der Wirklichkeit ist die Gerechtigkeit der Zweck der bürgerlichen Verfassung, in der Speculation das Princip. Die Gesetzgebung als eine philosophische Wissenschaft muß von der Idee der Gerechtigkeit ausgehen und daraus bestimmen, was seyn soll. Die Gesetzgebung als Kunst muß den wirklichen Zustand nehmen, wie sie ihn findet, und ihn dem Ideal so weit zu nähern suchen, als es möglich ist. Gesetzgebung als eine philosophische Wissenschaft kann aber, weil wir nie unsere äusere Lage durch Ideen bestimmen können, sondern durch Natur in sie versetzt werden, nie praktisch werden. Um dieß zu seyn, müßte der Staat und alle Verhältnisse seiner Individuen aus der Gesetzgebung hervorgehen, und nicht schon von ihr gefunden werden, wo sie dann nur bestimmen kann, was in gewissen Lagen gerecht ist, aber die Lage selbst nicht zu ändern vermag. Die Idee der Gerechtigkeit, die bloß formal ist, bleibt daher auch in ihrem Gebrauch nur formal, und kann nur gerechte Menschen, aber keinen gerechten Staat hervorbringen. Ein gerechter Staat ist daher nur durch gerechte Individuen möglich, doch mit der Erleichterung, daß er, um als Staat den Menschen die Vortheile der Gerechtigkeit zu verschaffen, nur Handlungen den Vorschriften der Gerechtigkeit gemäß hervorbringen darf, ohne daß er die gerechte Gesinnung vorauszusetzen brauchte. Die Aufgabe ist also: auf welche Art erreicht ein Staat die äusere Vortheile der Gerechtigkeit? Die Antwort ist: durch eine diesem Zweck entsprechende Gesetzgebung; und diese führet dann auf die Aufgabe: wie ist Gesetzgebung möglich? Da die Erklärung der Möglichkeit, daß etwas geschehe, Theorie heißt, so müssen wir uns also mit einer Theorie der Gesetzgebung begnügen, deren Anwendung dann noch eine besondere Kunst erfordert. Die Theorie der Gesetzgebung hat die Idee der Gerechtigkeit durchaus zu ihrem regulativen Princip; was ihr widerspricht, muß verworfen werden. Da aber die Gesetzgebung auch über Gegenstände entscheiden muß, die nicht allzeit eine Frage von Recht oder Unrecht betreffen, sondern auch öfters vom Nützlichen und Schädlichen, so ist die Idee der Gerechtigkeit nur in so weit zugleich konstitutiv, als sich über den Gegenstand aus dem Gesichtspunkt des Rechts etwas entscheiden läßt. Praktisch im eigentlichen Sinne kann, wie ich oben schon bemerkt habe, die Idee der Gerechtigkeit gar nicht bey der Gesetzgebung, sondern nur bey dem einzelnen Bürger seyn. Daß es nur eine Theorie der Gesetzgebung geben könne, und sie keine rein philosophische Wissenschaft sey, läßt sich auch daraus zeigen, daß von der einen Seite die Gesetzgebung nothwendig und als Bedürfniß gefordert wird, von der andern die Tugend nur durch Freyheit möglich ist. Die Aufgabe ist also folgende: wie ist es möglich, daß sich freye moralische Wesen ohne Verlust ihrer Würde gegebenen Gesetzen unterwerfen? Diese Möglichkeit kann nur darinn bestehen, daß gegebene Gesetze denjenigen, welche sich der Mensch als moralisches Wesen selbst geben muß, gleichlauten. Von der Beschaffenheit dieser gegebenen Gesetze hängt also die Möglichkeit der Gesetzgebung für moralische Wesen ab, und diese Beschaffenheit bestimmt die Theorie der Gesetzgebung. Da die Veranlassung zum Gesetz jederzeit gegeben ist, und das Gesetz durch sie erst aufgesucht wird, so entscheidet die Theorie eigentlich nicht, was Gesetz seyn muß, sondern was es seyn kann, welches Können aber dadurch ein Müssen wird, wenn es einzig moralisch möglich ist. 

Die Gesetzgebung als Kunst gieng, wie jede Kunst, ihrer Theorie voraus. Darinn hat sie aber vor andern Künsten einen eigenen Charakter, daß eine Idee a priori ihr Princip ist, und daß sie ihr Produkt einer Kritik unterwerfen muß, deren Principien in einer, der Gesetzgebung als Kunst ganz fremden, Region in der Moral liegen. Die Theorie der Gesetzgebung hat daher vor jeder andern Theorie das Eigene, daß sie sich nicht durch das, was die Kunst je leisten konnte, beschränkt, sondern daß sie ihre Ansprüche auf die Kunst in dem Grad erweitert, als sie sich erweitert. Jede Theorie der Gesetzgebung muß aber, wie jede andere, so lange mangelhaft oder gar falsch bleiben, als das, dessen Möglichkeit sie zeigen soll, noch nicht genau bestimmt ist. So lange man glaubte, nur erklären zu müssen, auf welche Art die Menschen am glücklichsten in Verbindung seyn können, solange hatte man sich die Aufgabe noch falsch vorgelegt, und sich eine praktische Aufgabe gemacht, da man sich doch, wie ich eben gezeigt habe, mit einer theoretischen begnügen muß. Nicht wie die Menschen glücklich werden, sondern wie sich gegebene durch das Bedürfniß veranlasste Vorschriften mit den unabhängigen selbst bestimmten und frey anerkannten Gesetzen freyer Wesen vertragen können, hat die Theorie der Gesetzgebung zu erklären. 

Ist meine Entwicklung der Idee der Gerechtigkeit richtig, so muß sie zum Princip dienen, die Platonische Republik, insoferne sie ein Ideal der Gesetzgebung aufstellen soll, zu beurtheilen.

 

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